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Orient-Express (German Edition)

Orient-Express (German Edition)

Titel: Orient-Express (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Dos Passos
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Barriere gegen den Norden erheben. Der mächtige Wind, der unablässig von Asien her weht, ein Wind so stark, dass er einem fast marmorgeädert erscheint, ein Wind von unvorstellbarer Weite, heult in meinem Glas und übertönt die verrückte Melodie, die aus dem mechanischen Klavier hinter mir kommt. Ich muss die Flasche zwischen den Knien halten, damit sie nicht vom Tisch fliegt.
    Wir haben von einem Wind aus Asien geträumt, der unsere Städte befreien würde von den Dingen, die unsere Götter sind, dem Schnickschnack und dem Büttenpapier und den Vasen und den Gardinenstangen, dem ganzen Zeug, dessen Besitz Arm von Reich unterscheidet, dem ganzen Schund, den unsere Kultur für das Höchste hält, für den wir uns krummlegen und zu Tode rackern. So dass aus dem Menschen, einem aufrechtgehenden nackten Zweifüßler, eine Art Einsiedlerkrebs geworden ist, der nicht leben kann ohne ein schützendes Gehäuse aus Abendgarderobe und Limousinen und Kaffeemaschinen und Einkaufsgutscheinen und Schneebesen und Nähmaschinen, weshalb er, je stärker das Gehäuse und je schwächer sein Selbstwertgefühl, umso mehr als bedeutender Mann und Millionär gilt. Dieser Wind hat Russland saubergefegt, so dass die Dinge, die noch vor wenigen Jahren als göttlich verehrt wurden, heute als muffiger Trödel in irgendwelchen Ecken vor sich hin rotten; Tausende Leben wurden gegeben und genommen (von meinem Platz kann ich die wuchtigen Gebäude der Tscheka ausmachen, vollgestopft in diesem Moment mit armen Teufeln, die in der Maschinerie erwischt wurden), eine Generation, gleichgemacht wie Kies unter einer Dampfwalze, um die Tyrannei der Dinge zu brechen, der Waren, der Bedürfnisse, der industriellen Kultur. Gegenwärtig erleben wir die Ruhe nach dem Sturm. Götter und Teufel rächen sich mit Cholera und Hungersnot an den Siegern. Wird am Ende das gleiche Elend das Ergebnis sein oder ein Glauben und viele Wörter wie Islam oder Christentum, oder wird es etwas Unmögliches sein, etwas Neues, Unerhörtes, ein einfaches, kraftvolles, aber nicht barbarisches Leben, ein nacktes und gottloses Leben, in dem Güter und Institutionen für gesunde Menschen hergerichtet werden und nicht Menschen fein gemahlen und gesiebt werden im Dienst der Dinge?
    Stärker, stärker weht der Wind aus Asien. Er hat den Tisch umgeworfen, mich vom Stuhl gerissen. Die Flasche in der einen Hand, das Glas in der anderen, stemme ich mich gegen den beängstigenden Wind.

8. International
     
    Abends im angenehmen, heruntergekommenen Jardin des Petits Champs, wo niemand an Cholera oder Typhus oder Hungersnot an der Wolga denkt, gab es Kaviar und Tomaten und Grusinski- Schaschlik für den amerikanischen Orientreisenden, dazu den wunderbaren kakhetischen Wein. Beim anschließenden Spaziergang durch unbeleuchtete Straßen sah man keine alten Leute, nur junge Burschen in Hemd und dunkler Leinenhose, manche barfuß, und junge Mädchen in hübsch geschnittenen, schmucken weißen Kleidern, ohne Strümpfe, ohne Hut, die zu dritt oder viert oder in Grüppchen auf den breiten leeren Asphaltstraßen fröhlich daherschlenderten.
    Die Nacht war warm, und ein trockener Wind wirbelte den Staub auf. Im Grusinski-Garten, einst Club der Aristokraten, drängten sich die neuen, leise lachenden jungen Leute. Eine Kapelle spielte die Leichte Kavallerie . Bunte Glühbirnen hingen zwischen den Bäumen. Es gab nichts Besonderes zu tun. Trotz Hungersnot und Cholera und Typhus schienen alle sorglos und unangestrengt fröhlich. An einem Tisch in der Ecke wurde, vermutlich illegal, Wein ausgeschenkt, den sich aber nur die Amerikaner leisten konnten. Allmählich strömte die Menge in ein Theater, über dessen Eingang Spruchbänder auf Russisch und Georgisch hingen. Der amerikanische Orientreisende wurde in einem schmalen Korridor als Amerikanski Poejt angesprochen, und bevor er wusste, wie ihm geschah, saß er in einem eigentümlich geschnittenen Raum. Und während er nach einer Person Ausschau hielt, die eine bekannte Sprache sprach, ging eine Wand hoch, und er stellte fest, dass er auf einer Bühne saß und einen vollbesetzten Zuschauerraum vor sich hatte. In der ersten Reihe sah er ein breites Grinsen auf den Gesichtern einiger Leute, mit denen er den Abend bis dahin verbracht hatte. Dann flüsterte ihm jemand auf Französisch ins Ohr, dass dies ein Festival der internationalen proletarischen Dichtung sei und er unbedingt etwas rezitieren müsse. Bei dieser Nachricht fiel der a. O. fast in

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