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Orient-Express (German Edition)

Orient-Express (German Edition)

Titel: Orient-Express (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Dos Passos
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genügend ausländische Maschinen haben, wird das die Revolution retten. Wir sollten aber Selbstversorger sein wie die Bienen.
    Seltsam, wie oft sie einem mit Bienen kommen. Die Ordnung und Süße eines Bienenstocks müssen sie sehr beeindruckend finden. In Tiflis sprachen die Leute immer wieder mit liebevoller Nostalgie von Bienen, als wäre deren kühle Nervosität ein Tonikum inmitten des blutgetränkten Chaos von Bürgerkrieg und Revolution.
    Inzwischen war es Nacht. Der Zug zuckelte durch eine Berglandschaft, unter einem Himmel, der übersät war mit Sternen wie eine Wiese mit Gänseblümchen. Im überfüllten Abteil, wo die Leute ihre Stiefel ausgezogen hatten und einer an des anderen Schulter schlief, waren Heerscharen von Wanzen aus den blanken Sitzen und Kojen gekrochen und marschierten in Dreier- und Viererkolonnen, diszipliniert und zielstrebig. Ich hatte schon eine Zeitung ausgebreitet und Insektenpulver in die Ecke der oberen Koje gestreut, in der ich eingezwängt zwischen anderen Schläfern lag. Die Wanzen fanden das Pulver ebenso stimulierend wie Schnupftabak, aber das Zeug juckte in der Nase und brannte in den Augen und schnürte mir fast die Luft ab, bis mir nichts anderes übrigblieb, als in das Gepäcknetz zu klettern, das in den überdimensionierten russischen Zügen zum Glück sehr groß und robust ist. Dort hing ich, nur von den akrobatischeren Wanzen angeknabbert, und während sich mir die Stange in den Rücken bohrte und das Insektenpulver jeden Atemzug vergiftete, redete ich mir ein, dass dieses Unterwegssein genau das Richtige für mich sei. Über mir hörte ich die Leute auf dem Waggondach.
    Gegen Mitternacht hielt der Zug lange in einem Bahnhof. Es gab Tee aus bottichgroßen Samowaren, deren Feuer das einzige Licht war. Man konnte ahnen, dass unten im Tal ein Fluss war, ein Geruch von trockenen Mauern und menschlichem Unrat stieg von dort auf. Mächtige runde Bergschultern erhoben sich bis zu den Sternen. Belebt von dem heißen Tee krochen wir alle wieder in unsere Löcher, an den Türen bildeten sich wieder Menschentrauben, und dann fuhr der Zug weiter. Diesmal fiel ich in tiefen Schlaf, hörte die Bewegungen der Leute über mir, hörte das sonore Rumpeln der Breitspurräder und eine Ziehharmonika in einem anderen Waggon, die hin und wieder ein zerrissenes Lied anstimmte.
    Am Morgen sehen wir einen silbernen Fluss, der sich tief unter uns in einem breiten Tal zwischen löwenfarbenen Bergen dahinschlängelt. Der Zug wirft einen eigentümlichen Schatten im Morgenlicht, alle Kanten und Ränder überdeckt von wackelnden, schlenkernden Figuren von Soldaten; auf den Dächern die Schatten von alten Frauen mit Körben, von stehenden und sich streckenden Männern, von Kindern mit viel zu großen Mützen auf dem Kopf. Einmal passieren wir einen langen Zug der zweiten Panzerdivision der Roten Armee – eine frischgestrichene Lokomotive, dann endlose Güterwaggons, blonde junge Soldaten in den Türen. Die meisten sehen nicht älter als achtzehn aus. Sie sind barfuß und tragen helle Hosen und Hemden aus Leinen. Fröhlich und entspannt hocken sie auf den Dächern und Trittbrettern von Güterwaggons und Schlafwagen und baumeln mit den Beinen. Man kann nicht erkennen, wer die Offiziere sind. Aus dem großen Salonwagen, geschmückt mit Zeichen und Plakaten, der so aussieht, als wäre es früher ein Speisewagen gewesen, beugen sich die Jungs und winken uns zu. Dann kommen offene Transportwagen mit Gerät, dann eine lange Reihe von Panzern, gefleckt und gestreift in Eidechsengrün. «Ein Geschenk der Engländer», sagt mein Nachbar. «Die Engländer haben sie Denikin 12 geschenkt, und wir haben sie von Denikin.»
    Unser Zug, die Fenster voller rußgeschwärzter Gesichter und die Sitzplätze voll Ungeziefer, nimmt Fahrt auf und geht in eine Kurve. Der Anblick der grünen Panzer hat die Stimmung verbessert. Mein Nachbar, der früher Bankier in Batum war und hofft, seine Tätigkeit wieder ausüben zu können, ruft leidenschaftlich: «Diese ganzen Wörter, Bolschewik, Sozialist, Menschewik haben keine Bedeutung mehr ... Ob es uns bewusst ist oder nicht, wir sind nur noch Russen.»

6. Die Helfer
     
    Mitarbeiter des N.E.R. müssen sich schriftlich verpflichten, keinen fermentierten oder destillierten Alkohol zu trinken. Mehrere N.E.R.ler sind in einem Privatauto nach Tiflis gefahren, um herauszufinden, ob eher ein Hungernder Kommunist wird oder jemand mit vollem Bauch. In Tiflis sterben täglich zwanzig

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