Orient-Express (German Edition)
Personen an Cholera, vierzig an Typhus, nicht mitgerechnet diejenigen, die an Orten sterben, wo sie niemand findet. Im N.E.R.-Büro schlafen wir alle auf Feldbetten und gurgeln mit Listerin, um Infektionen vorzubeugen und den Wodkageruch loszuwerden. Im Büro wimmelt es von elenden Baronen und Gräfinnen, die dem alten Regime hinterhertrauern und selbst die aufrichtigsten Helfer beeinflussen. Was kann ein Amerikaner schon gegen einen Aristokraten haben, noch dazu einen notleidenden Aristokraten im Exil? Wer weiß, vielleicht ist es ja die Fürstin Anastasia in Verkleidung. Die russische Regierung versteht das alles, sagt aber klugerweise, dass ein lebendes weißes Kind besser ist als ein totes rotes Kind. Die Entscheidung, welche Schafe leben dürfen und welche Ziegen sterben müssen, überlässt sie also den Helfern.
Doch das eigentliche Interesse der Helfer gilt den Dingen. Auf den ersten Blick gibt es in Tiflis gar keine Dinge. Keine Auslagen in den Schaufenstern, die Häuser leer wie Beduinenzelte, doch in Richtung N.E.R. fließt ein unablässiger Strom von Diamanten, Smaragden, Rubinen, silberverzierten Dolchen, georgischen und anatolischen Teppichen, Teppichen aus Persien und Turkestan, Uhren, Filigranarbeiten, silbernen Handtaschen, Pelzen, Bernstein, den Mustafa-Sirdar-Papieren, Fotoapparaten, Füllfederhaltern. Mein Gott, wie günstig! Für einen Koffer voll Rubel kann man sich für sein ganzes Leben eindecken. Die Leute daheim werden große Augen machen, wenn ich erzähle, was die Brilliantbrosche gekostet hat, die ich meiner Frau mitgebracht habe.
Und die graugesichtigen Leute, die diese Dinge herbeitragen, alte Männer und Frauen, die Angst haben vor der Tscheka, vor Banditen, vor der Cholera, vor ihren Schatten, Trümmer einer zerstörten Welt, die, um etwas zu essen zu haben, Dinge verkaufen, die bis 1917 die Grundlage ihrer Existenz gewesen waren; arrogante junge Männer, die sich auf die Seite des Siegers geschlagen haben und gut dabei wegkommen; Berufsspekulanten, meistens, aber nicht immer, Griechen, Armenier oder Juden, Männer mit scharfen Augen und Hakennasen, in schäbige Mäntel gekleidet, den Rücken krumm vor Respekt und Höflichkeit, die sich die Hände rieben, die nie einen Geldschein weggaben, wie wertlos die Währung auch sein mochte, Männer, die große Banken gründen werden, Philanthropen und die Gründer internationaler Familien. So billig, so billig!
Und der Stolz und die Tugendhaftigkeit der N.E.R.ler, die sich durch ihre Unterschrift verpflichtet haben, keinen Alkohol zu trinken, die unter Einsatz des eigenen Lebens der notleidenden Menschheit helfen, die sich der Ansteckungsgefahr von Bolschewismus, Kommunismus, freier Liebe, verstaatlichten Frauen, Anarchie und weiß Gott was aussetzen – ihr tugendhafter Stolz auf den Dollar, König der Wechselkurse, mit dem sie sich über die Dinge beugen: Teppiche, aus den Moscheen gestohlen, Lampen aus den Kirchen, Perlen vom Hals einer abgeschlachteten Großherzogin, der Pelzmantel einer armen alten Frau, die hungrig in ihrer dürftigen Stube sitzt und durch eine Ritze im Fensterladen hinausschaut auf diese furchtbare Welt der Jungen, eine Welt, rauh und leidenschaftlich und grob, die sie nie verstehen wird, eine alte Frau, die durch den Fensterladen blickt mit den Augen einer Katze, die von einem Automobil überfahren wurde.
7. Die Drahtseilbahn
Die Drahtseilbahn wird noch immer von dem unvermeidlichen belgischen Unternehmen betrieben. Fahrscheine gibt es bei einer kleinen jungen Polin, adrett wie eine weißgekleidete Maus. Statt Strümpfen an den Beinen eine gesunde Bräune. Sie klagt über den Mangel an Puder und Seidenstrümpfen und fragt sich, was sie tun soll, wenn ihre Schuhe abgetragen sind. Die Kabine ruckelt quietschend bergan. Hoch über der Stadt weht ein starker Kontinentalwind.
Nach einer Wanderung in den Bergen sitze ich vor einer kleinen Taverne, auf dem Tisch vor mir eine Flasche Kakhetia Nr. 66. Die Altstadt von Tiflis, staubfarben, hier und da ein Tupfer von Blau oder Weiß an einem Haus, erstreckt sich weitläufig über dem Trichter, aus dem sich der Kupferdrahtfluss in die Ebene ergießt. Aus der Senke steigt eine Dampfwolke von den Schwefelquellen auf. Dahinter die enormen grauen Gebäude der russischen Stadt in der Ebene. Im Tal hintereinander geschichtete Hügelkuppen, ocker und olivfarben, in der Ferne ins Blaue gehend, bis sie mit den hohen Gipfelketten des Kaukasus verschmelzen, die sich wie eine
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