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Orient-Express (German Edition)

Orient-Express (German Edition)

Titel: Orient-Express (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Dos Passos
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Ohnmacht.
    Es war ein grandioser Abend. Höchstens zehn Leute verstanden irgendetwas. Auf Armenisch, Georgisch, Türkisch, Persisch, Russisch, Deutsch und in allen nur denkbaren anderen Sprachen wurden Gedichte vorgetragen und gesungen. Das Publikum war begeistert. Dem a. O. gelang es, stockend ein Wiegenlied von William Blake als sein eigenes aufzusagen, das einzige, das ihm erinnerlich war, ein revolutionärer Ausbruch, der mit Bravorufen quittiert wurde. Der verwirrte und schweißgebadete a. O. hatte das Gefühl, seinen Beruf verfehlt zu haben. Jedenfalls dürfte Oh Sunflower weary of time nie unter seltsameren Bedingungen rezitiert worden sein. Und nachdem ein schmächtiger junger Soldat mit einem kegelförmigen geschorenen Kopf ein langes russisches Gedicht aufgesagt hatte, bei dem jeder in brüllendes Gelächter ausbrach, dass die Wände wackelten, löste sich die Versammlung unter größtem internationalen Frohsinn und Gesang auf, und alles strömte durch die stockdunklen Straßen nach Hause, junge Männer in weißen Hemden, barhäuptige junge Frauen in weißen Kleidern schlenderten unbekümmert durch diese leere Welt wie Kinder, die in einem verwaisten Haus spielen, und wurden allmählich verschluckt von den schwarzen kasernenartigen Gebäuden.
    Unterwegs kamen wir an der Tscheka vorbei. Der Ort war hell beleuchtet, Stacheldraht vor den Fenstern, Wachposten gingen auf und ab. Wir versuchten, den Zuchthausgeruch nicht in die Nase steigen zu lassen, aber für unsere Ohren brach das Idyll zusammen.
    Im N.E.R. herrschte beträchtliche Aufregung. Einer der Helfer war nur mit Mühe in sein Feldbett zu bringen. Andere sprachen über Typhus und Cholera. Ein Mann lief herum und zeigte allen eine Handvoll schwerer silberner Suppenlöffel. «Fünf Cents das Stück, wie findet ihr das?» – «Bist du sicher, dass sie nicht plattiert sind?» – «Echtes englisches Sterlingsilber, hier ist der Löwe. Etwas Besseres gibt es nicht.» – «Weil Major Vokes in Batum eine Halskette gekauft hat, die sich als Imitat erwiesen hat.»
    Ich lag zusammengerollt auf meinem Feldbett im Nebenzimmer und hörte alles mit; der unruhige Geruch der Sommernacht kam mit einem Stückchen Mondlicht durch das geöffnete Fenster. Die Straße draußen war dunkel und leer, aber in der Ferne erklang leise ein Akkordeon. Die zittrige, zerrissene Melodie eines Akkordeons wehte durch die schwarze, halbverödete Steinstadt, schaute zu den Kasernenfenstern hinein, erschreckte die Alten, die verängstigt hinter geschlossenen Fensterläden inmitten ihrer letzten Dinge saßen, erregte die armen Teufel, die im Keller der Tscheka saßen, gefangen im Räderwerk des Molochs Revolution, so wie bei jeder Vorwärts- oder Rückwärtsbewegung der Dampfwalze namens Geschichte Leute unter die Räder kommen. Das Gefängnis ist der Grundstein der Freiheit, dachte der a. O., und dann fielen ihm die Augen zu.

V   HUNDERT ANSICHTEN
DES ARARAT
1. Tiflis
     
    Der Zug bestand aus einem kleinen Personenwagen, vollgestopft mit Soldaten, und vielen Güterwagen. Als er einfuhr, saß ich auf meinem Koffer auf dem Bahnsteig und starrte versonnen auf die pompöse Anweisung für ein Schlafwagenabteil, die ich im Kommissariat für Auswärtige Angelegenheiten bekommen hatte. Das übliche zerlumpte Volk, dem man auf jedem Bahnhof im Kaukasus begegnet, lief hierhin und dorthin, Koffer und Säcke hinter sich herschleppend, ein schwitzendes, ärmliches Durcheinander von Bauern und Soldaten. Der Sajjid (also ein Nachfahre des Propheten Mohammed oder Alis, Sohn des Abu Talib) ging auf und ab und hielt allen, die es hören wollten, eine eindrucksvolle Rede auf Persisch und Türkisch über die besonderen Privilegien eines Diplomatenpasses. Endlich, nach wiederholten Vorstößen eines lustlosen Dolmetschers und Anfragen bei Amtspersonen an Schreibtischen, wurde beschlossen, dass der Güterwagen, in dem die Zeitungen befördert wurden, am ehesten einem Schlafwagen gleichkomme und dass die informative Gesellschaft von Iswestija- und Prawda- Bündeln sogar noch besser sei als ein Schlafwagenabteil, sofern der zuständige Kommissar einverstanden sei. Weitere Kommissare an Schreibtischen wurden konsultiert. Natürlich war der Kommissar sofort bereit ... Der Waggon wurde geöffnet und ein gewisser Samsun dort vorgefunden, ein Armenier, dem der Sajjid eine leidenschaftliche Predigt auf Türkisch über die Tugenden von Sauberkeit und Hygiene hielt, mit dem Ergebnis, dass Wasser herbeigeschafft und

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