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Orient-Express (German Edition)

Orient-Express (German Edition)

Titel: Orient-Express (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Dos Passos
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Afghanen. Erst haben wir die Briten gemocht, weil sie besser sind als die Russen, doch nun gibt es keinen Druck von Russland, und die Briten haben sich verändert. Und im Islam ist nicht mehr so viel Fatalismus wie früher. Europa ist unser Lehrmeister, Europa gibt uns Waffen.»

8. Die kleinen Leute in Persien
     
    Später, auf der letzten Etappe nach Teheran, sagte der Sajjid wieder: «Welchen Fehler machen alle europäischen Mächte in Bezug auf Persien? Ich werde es Ihnen sagen. Sie denken nur an die großen Leute. Es ist ihnen nicht klar, dass es auch kleine Leute gibt, wie mich, Ärzte, Mollahs, kleine Händler, und dass selbst die Bauern in den Teehäusern an der Straße über Politik sprechen. Sie wissen, dass sie die großen Leute bestechen und unter Druck setzen können, und sie glauben, sie haben Persien in der Hand. Aber uns, die kleinen Leute, können sie nicht bestechen, denn wir sind zu viele. Wenn sie mich kaufen oder mich töten lassen, dann gibt es Hunderte anderer, die genauso denken wie ich und an meine Stelle treten. Es wird ihnen also nichts nützen.»
    Es war kurz vor Morgendämmerung. Ein hauchzartes goldenes Band säumte den steil aufragenden Demavand, den mächtigen Berg oberhalb von Teheran. Der Wind war eisig wie ein Schneefeld.
    «Und wenn Sie in Ihre Heimat zurückkehren», sagte der Sajjid, «vergessen Sie nicht, Ihren Landsleuten zu sagen, dass es kleine Leute in Asien gibt.»

VII   MOHARRAM
    F ür Z. C. B.

1. Der Derwisch
     
    Vor dem Tor, wo die staubige Straße vorbeiführt, unter Platanen hinauf in die Berge, sitzt ein weißgewandeter alter Mann mit blauem Turban. Sein Bart ist so dicht, als wäre er aus Silber gewirkt. Bewegungslos hockt er da und schaut aus ernsten Adleraugen vor sich hin. In der einen Hand hält er einen aufrechten Krummsäbel, in der anderen, die auf seinem Schoß ruht, hält er ein Buch. Schwert oder Koran. Die Spitzen des zunehmenden Halbmonds greifen nach der Welt. Passanten werfen Kupfermünzen auf die Ecken seines Gebetsteppichs. Der alte Mann sitzt bewegungslos da, achtet nicht auf den aufwirbelnden Staub, hockt am Straßenrand auf einem Baumwollteppich mit dem Gesicht eines Emirs, der die Gläubigen in den heiligen Krieg führt.
    In Persien werden Bettler fast als Heilige angesehen. Bettler geben dem Gläubigen die Möglichkeit, für ein angenehmes Leben im Himmel vorzusorgen. Im Chan von Mianeh war ein Kaufmann, dessen Karawane von Banditen überfallen worden war. Er hatte eine Bestätigung eines Mudschtahid, wonach er durch Allahs Willen alle irdischen Güter verloren habe, und nun wartete er in seiner Kammer geduldig auf Spenden von Reisenden, die es ihm ermöglichen würden, sein Geschäft wiederaufzunehmen. Er sah sehr glücklich aus, wie jemand, der nicht mehr gegen die Widrigkeiten des Lebens ankämpft. Islam bedeutet nicht umsonst Unterwerfung, Selbstaufgabe.
    Und in jedem Teehaus an der Straße findet man fröhliche Gestalten, zerlumpt und abgerissen, Männer jeden Alters und aus allen Schichten, die nicht mehr arbeiten, sondern durchs Land ziehen und so gut es geht aus der Heiligkeit der Armut Kapital schlagen. Sie sind gewiss die glücklichsten Menschen in Persien. Sie denken nicht an Steuern oder Überfälle von Bergstämmen oder Banditen im Gebirge. Sie wandern umher, Sonne und Wind ausgesetzt, hungern und singen Gebete und tragen Epidemien und das Wort Gottes von der Wüste Gobi bis zum Euphrat. Landstreicher gibt es überall, aber im Orient ist diese Lebensform ein religiöser Akt. Alle Tollheit, alle Rastlosigkeit kommt von Gott. Verliert ein Mann sein einziges Kind oder seine geliebte Frau oder geschieht ihm ein anderes unbeschreibliches Unglück, legt er seine Kleider ab und läuft hinaus ins Freie und lässt das Haar wachsen und zieht bettelnd und Gott preisend durch die Welt. Er wird ein Derwisch, so wie er im mittelalterlichen Europa in ein Kloster gegangen wäre.
    Diese Dinge gingen mir durch den Kopf, als ich in Teheran unterwegs zum Telegraphenamt war, da nur noch eine Handvoll Silbermünzen in meinem Geldbeutel war und meine Hotelrechnung immer weiter anstieg und jedes Telegramm mit der Bitte um Geld mich eine Woche Kost und Logis kostete. Es war in den ersten Tagen des Moharram, des Monats der Trauer, wenn keine Musik gespielt und nicht getanzt wird, der Monat der Trauer um Hossein, den Sohn Fatimas, der Tochter des Propheten. Jeder Tag erfüllte Teheran mit noch mehr Bettlern und Frömmigkeit und Fremdenfeindlichkeit. Ich

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