Orient-Express (German Edition)
unserer Herberge und hatten einen heftigen Streit über das Thema Industrialisierung. Während unseres Gangs durch den Basar hatte der Sajjid lautstark darauf hingewiesen, wie hart die Kupferschmiede und die Silberschmiede arbeiteten und dass es doch viel besser wäre, wenn ihre Arbeit von Maschinen übernommen würde. Er hatte offenbar die in diesem Teil der Welt sehr verbreitete Vorstellung, dass Maschinen von ganz allein arbeiten. Ich versuchte ihm zu erklären, dass das Leben eines Fabrikarbeiters in Europa und Amerika kein Zuckerschlecken sei, und überlegte sogar, ob diese Kupferschmiede, so miserabel sie auch bezahlt waren, nicht ein besseres Leben haben als etwa ein Stahlarbeiter in Deutschland, trotz Kino und Kneipe, in denen er sich verlustiert. Doch der Sajjid überschüttete mich mit einer langen Aufzählung von Hungersnöten und Ausbeutung durch Würdenträger und Mudschtahids und Gouverneure. – «Nein», sagte er schließlich, «wir müssen Fabriken und Eisenbahnen haben. Dann werden wir eine große Nation sein.»
Am nächsten Morgen verließen wir die heilige und heruntergekommene Stadt Zendjan. Die Sonne glitzerte zauberhaft auf der Kuppel der Moschee, die in Form und Farbe an das Ei einer Wanderdrossel erinnerte. Am Nachmittag kam noch einmal diese Nadjiss-Geschichte auf. Wir tranken Tee in einem kleinen Straßencafé, als ein Hadschi mit karminrot gefärbtem Rauschebart, der in der Ecke saß und eine dicke Pfeife rauchte, sich bemüßigt fühlte, gegen unsere Anwesenheit zu protestieren. Doch der Sajjid ließ sich nicht einschüchtern. Er zitierte einen Vers von Saadi 18 über die Pflicht, Fremden höflich zu begegnen, und im nächsten Atemzug zitierte er ausführlich aus dem Koran-Abschnitt «Die Kuh». Plötzlich hielt er inne und forderte den Hadschi auf, dort weiterzumachen, wo er aufgehört hatte. Der Hadschi stotterte und stammelte, wusste nicht weiter und musste schließlich eingestehen, dass der Sajjid ein guter Muselmann und ein gebildeter Mann sei. Zur Versöhnung reichte er ihm sogar seine Pfeife.
Von da an war die Malaria des Sajjids praktisch kuriert. Als wir Kazvin erreichten, war er munter wie ein Spatz und dachte wehmütig an seine deutschen Mademoiselles. «Ich werde eine Deutsche heiraten», sagte er. «Ich habe eine Bekannte in Deutschland, eine Ärztin, die Tochter eines Oberst. Ich denke, sie wird mich heiraten, wenn ich so weit bin. Ich könnte keine Perserin heiraten. Sie sind sehr hübsch, aber zurückgeblieben. Es wäre so, als würde man ein Tier heiraten ... Aber das wird sich alles ändern. Sie werden sehen!»
7. Das Gästezimmer in Kazvin
Kazvin war voller Platanen, in denen massenhaft Krähen saßen, die in der Abenddämmerung unter lautem Geschrei umherflogen. Wir kamen bei dem Bruder des Sajjid unter, der uns fürstlich bewirtete, obwohl Moharram war, der Monat, in dem die Perser keinen Wein trinken und auf jedes Vergnügen verzichten. Der schlichte Lebensstil der persischen Mittelschicht hat etwas sehr Angenehmes. Die Zimmer sind, bis auf ein paar Teppiche, ein paar Stühle und ein Sofa, meist leer. Es gibt keine Diener, bei den Mahlzeiten tragen die Söhne des Hauses Zinntabletts herbei und bedienen die Gäste. Betten oder irgendwelchen Zierat gibt es nicht. Abends und zur Siesta-Stunde werden Matratzen und Decken aus Schränken geholt und ausgerollt. Alles geht eigentümlich ruhig und unaufgeregt vonstatten. Aus den Teppichmustern und Teetassen, den leisen, feinsinnigen Gesprächen und dem fast unangenehmen Geschmack süßer Getränke ergibt sich eine bemerkenswert harmonische Langsamkeit. In Persien – ich vermute, das gilt für die ganze islamische Welt – kann man den Eindruck gewinnen, als sei das Leben frei von Ungestüm und Hektik. Es ist wie ein ausgetrockneter Wasserlauf, der früher einmal ein reißender Strom war, heute aber nur noch aus ein paar stillen Pfützen besteht, die das Blau und die Wolken spiegeln und auf ihre Weise vielleicht mehr von der Intensität eines unruhigen, verschlungenen Lebens enthalten als der Fluss, die aber irritierend zusammenhanglos, unberechenbar sind.
In Persien ist es offenbar Sitte, sich unmittelbar nach dem Abendessen zurückzuziehen, und an diesem Abend in Kazvin, ganz allein mit meinem Bettzeug in einem der Zimmer im Obergeschoss des Hauses, packte mich der übermächtige Wunsch, in die Stadt hinauszugehen. Aber das Haus war bestimmt abgeschlossen, und ich befürchtete, in eines der Frauengemächer zu
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