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Orient-Express (German Edition)

Orient-Express (German Edition)

Titel: Orient-Express (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Dos Passos
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stolpern, wenn ich mein Zimmer verließ. Ersatzweise stieg ich durch mein Fensterchen auf ein kleines Dach, von wo aus ich die flachen Dächer und die tintenschattigen Innenhöfe der Stadt sehen konnte, die sich ringsum unter dem Mond erstreckte. Mir gegenüber war die dicke Kuppel und das gedrungene kachelgeschmückte Minarett der Freitagsmoschee. Auf vielen Dächern waren Gestalten zu erkennen, die sich dort zum Schlafen hingelegt hatten, und manchmal eine Bewegung in einem Innenhof. Ich musste an eine Erzählung von Maupassant denken, in der ein nacktes Mädchen im Mondschein auf dem flachen Dach eines Hauses in Marokko steht. Und aus irgendeinem Grund überkam mich eine Abscheu vor den ganzen romantischen Orientklischees, von denen es ja selbst im Orient wimmelt, so dass ich fast wieder in mein Zimmer geklettert wäre, um all diese Gedanken in mein Notizbuch zu schreiben. Ja, das Spektakel, die karminroten Bärte und die safrangelben Bärte und die mächtigen Turbane und die hohen runden Filzhüte und die Teppiche und die buntgeschmückten Pferde und die anmutigen Gesten alter Männer und die gespenstisch verhüllten Frauen und die Kamele mit ihren langen, federnden Schritten und die dunkle Fülle der gewölbten Lagerräume in den Basaren – war das nicht alles leblose Routine, ein halbvergessenes Ritual, vor Ewigkeiten gelernt? Es ist der Westen, wo das Blut heiß in den Adern fließt und die Welt ungeordnet und romantisch ist, wo phantastische, unerwartete Dinge passieren. Hier ist alles versucht und erfahren und verschlissen worden. Mit sehnsüchtigen Gedanken an den Broadway und die Zweiundvierzigste Straße legte ich mich auf meine weiche Matratze. Kaum hatte ich mich beruhigt, hörte ich eine Trommel in der Ferne und kehlige, angespannte, wilde Stimmen, die in raschem Rhythmus «Hassan, Hossein, Hassan, Hossein» riefen, als wäre Hossein, der ritterliche Enkel des Propheten, erst gestern in Kerbela gestorben.
    Bevor wir am nächsten Morgen Kazvin verließen, führte der Sajjid eine Operation durch. Dann brachen wir auf, mit viel Tamtam und eskortiert von berittenen Gendarmen und unter Zurücklassung des Opfers, das blutend auf einem wackeligen Tisch in der Apotheke des Gouverneurs lag und durch seinen Äther stöhnte. Wir aßen Weintrauben, während der Zweispänner mit eindrucksvoller Gemächlichkeit über staubige Pisten dahinrumpelte und der Sajjid über die Revolution in Asien sprach. Begonnen, sagte er, habe alles mit der Niederlage Russlands im japanischen Krieg, die die Asiaten auf die Frage brachte, ob in den Büchern des Schicksals geschrieben stand, dass sie ein für alle Mal die Sklaven Europas sein müssten. Sodann hätten die türkische Verfassung und die persische Verfassung gezeigt, dass die schattigen und verfallenen Gärten des Orients nicht völlig verdorrt waren unter dem tödlichen Ansturm des Westens. Und während Europa Krieg führte, dachte Asien nach. In Asien entwickelten sich die Dinge immer sehr langsam, so langsam, dass die Europäer nichts bemerkten und erklärten, dass sich dort überhaupt nichts bewege, aber irgendwann wird die Zeit kommen, da die mächtigen Ausbeuter plötzlich feststellen, dass sie nicht mehr wissen, wohin ihr Weg sie führt. So ist das in Asien. «Nehmen Sie nur mich», rief der Sajjid mit schriller Stimme. «Als Kind habe ich die Europäer für eine überlegene Rasse gehalten, vor fünf, sechs Jahren hatten sie so viel erreicht; Persien könnte sich glücklich schätzen, wenn es von den Briten regiert würde. Aber heute ... Ich habe alle Länder gesehen, habe ihre Propaganda gehört. Ich habe gesehen, welche Schmiergelder sie bezahlen und mit welchen Methoden sie kämpfen, all die hochzivilisierten, vornehmen Völker Europas, und ich weiß, was ich weiß. Und was ich weiß, das wissen auch der Maultiertreiber und der Töpfer und der Bademeister, der einen durchwalkt, und der Bauer und der Nomade. Nein, ich werde gern sterben, bevor mein Land von irgendeiner europäischen Nation dominiert wird. Und ich bin nicht der Einzige.»
    «Und was die Briten hier in Persien angeht ... ja, ich weiß, sie sind ein großes Volk. Ich war mal drei Tage in London, die ganze Zeit hat es geregnet, aber ich bin durch die Stadt gegangen und habe die Leute gesehen und wusste, es waren braves gens. Aber hier sind sie anders, uns gegenüber, und deshalb werde ich zeit meines Lebens gegen sie kämpfen, avec Diplomatik. Und den Türken geht es genauso und den Arabern und den

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