Orphan 1 Der Engel von Inveraray
was nicht sehr häufig vorkam, musste Sims außerdem zugeben, dass er es wahrhaftig genoss, die ihm Anvertrauten zu quälen und zu peinigen.
Das waren die „Vergnügen", die das Leben als Gefängniswärter zu bieten hatte.
Es war das Bedürfnis, seine Stellung als Herrscher in seinem Reich zu untermauern, das Sims zurück zu Haydons Zelle trieb, nachdem Governor Thomson sich, noch immer über die Zertrümmerung seines geliebten Stuhles jammernd, in seine Wohnung zurückgezogen hatte. Sims hatte noch ein Hühnchen mit diesem Gefangenen zu rupfen und nicht die Absicht, die Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen - nicht, wenn Seine Lordschaft am nächsten Morgen gehängt werden würde. Dieser gemeine Mörder hatte es gewagt, die Hand gegen ihn zu erheben. Obwohl es ihm gelungen war, dem Gefangenen einige Schmerzen zuzufügen, bevor dieser dreckige kleine Mistkerl ihn von hinten angefallen hatte, war die Sache noch längst nicht erledigt. Es hatte keinesfalls zur Besserung seiner Laune beigetragen, dass er von einer riesigen Ratte angegriffen, auf schleimigem Haferbrei ausgerutscht und auf den verdammten Stuhl des Direktors gestürzt war. Dieser schmähliche Vorfall und die Erniedrigung, den Zorn des Direktors über sich ergehen lassen zu müssen, während er den Boden aufwischte und die Scherben der zerbrochenen Breischüsseln aufklaubte, hatten sein Verlangen, diesem Mörder eine Abreibung zu verpassen, nur noch gesteigert.
Umso mehr, da er wusste, dass Seine Lordschaft sich nicht wehren konnte.
Er öffnete den schmalen Sehschlitz in der Kerkertür und spähte hindurch. Die Zelle war dunkel; nur durch die eisernen Gitterstäbe vor dem Fenster fiel ein wenig Mondlicht herein. An einem Ende des Raumes lagen die Reste des zertrümmerten Bettes auf dem Boden verstreut. Wut packte ihn bei dem Gedanken, wie er auf die Pritsche geschleudert worden war. Dafür würde Seine Lordschaft teuer bezahlen!
Die Muskeln erwartungsvoll gespannt, ließ er den Blick zur anderen Seite der Zelle schweifen.
Sie war leer.
„Was zum Teufel ..."
Die eine Hand am Türgriff, fingerte Sims hastig an seinem Schlüsselbund herum und schnappte verblüfft nach Luft, als die schwere Eichentür sich unvermittelt öffnete.
Er nahm eine brennende Laterne von einem Haken an der Wand und trat vorsichtig über die Schwelle. Angestrengt schaute er umher und leuchtete jeden Winkel der Zelle aus, so als könnte er seinen Gefangenen doch noch aufstöbern, wenn er nur gründlich genug nach ihm suchte. Vielleicht versteckte er sich unter der schmalen Holzpritsche oder hinter dem Nachttopf ...
Nach einer Weile erlosch die Laterne zischend. Allein in der Dunkelheit der Zelle, zerbrach Sims sich verzweifelt den Kopf darüber, wie er Governor Thomson erklären sollte, dass ihr berühmtester und gefährlichster Gefangener geflohen war.
2. KAPITEL
Haydon konnte sich kaum noch auf den Beinen halten.
Es hatte ihn all seine Kraft gekostet, Miss MacPhail und dem Jungen bis hierher zu folgen. Ursprünglich war dies nicht seine Absicht gewesen, doch in dem Augenblick, als er die Mauern des Gefängnisses hinter sich gelassen hatte und sich keuchend die verletzte Seite hielt, war ihm klar geworden, dass es keinen Ort gab, wo er hätte Zuflucht finden können. Er kannte niemanden in Inveraray, er hatte kein Geld, und er trug die schmutzige Gefängniskleidung am Leib. Außerdem wusste er, dass er in seinem geschwächten Zustand nicht weit kommen würde.
All seine Hoffnung ruhte auf der mitfühlenden Miss MacPhail, die mit dem jungen Jack in einiger Entfernung vor ihm herlief. Er befürchtete allerdings, dass sie ihm nicht helfen würde. Sie war großzügig und warmherzig, kein Zweifel, doch sie hielt ihn für einen Mörder. Abgesehen davon, dass sie möglicherweise vor ihm Angst hatte, bestand die höchst reale Gefahr, dass man sie wegen Beihilfe zur Flucht verurteilen könnte, falls man ihn bei ihr entdeckte. Bei dem jungen Burschen lagen die Dinge jedoch anders. Die Tatsache, dass er dem Wärter kühn die Schlüssel gestohlen und ihm die Zellentür geöffnet hatte, bewies Haydon, dass sein Schicksal Jack nicht völlig gleichgültig war. Sosehr es ihm widerstrebte, den Jungen um Hilfe zu bitten, seine verzweifelte Lage ließ ihm keine andere Wahl. Wenn er sich einige Tage in Miss MacPhails Schuppen oder Remise verstecken könnte und der Junge ihn währenddessen mit Wasser und Nahrung versorgte, gelang es ihm möglicherweise, wieder zu Kräften zu kommen.
Und
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