Orphan 1 Der Engel von Inveraray
Drummond rufen können, der mich von hier fortzerren wird?"
„Weil Sie aussehen, als ob Sie gleich ohnmächtig würden, und ich nicht glaube, dass ich es schaffe, Sie allein zurück ins Bett zu hieven."
„Ich kann nicht hier bleiben."
„Da haben Sie Recht. Doch ebenso wenig können Sie in Ihrem augenblicklichen Zustand von hier fortgehen. Sie sind kaum in der Lage, sich auf den Beinen zu halten, und ich bezweifle sehr, dass Sie allein zurechtkommen würden. Also bleibt uns nur eine vernünftige Wahl, und zwar, Sie zurück ins Bett zu bringen."
Er schüttelte ernergisch den Kopf. „Wenn die Polizei mich hier findet ..."
„Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass sie zurückkehren wird", erklärte Genevieve. „Constable Drummond wollte mit Jack sprechen, doch das Gespräch hat ihm nur klargemacht, dass Jack alle und jeden verachtet und nicht den Wunsch verspürt, den Behörden zu helfen. Da im Wagenschuppen nichts gefunden worden ist und viele andere mögliche Verstecke durchsucht werden müssen, vermute ich, dass die Polizei zu beschäftigt sein wird, um noch einmal herzukommen."
Haydon lehnte sich an den Bettpfosten und zwang sich, regelmäßig zu atmen. Sein Schädel wollte schier bersten vor Schmerz, ihm war speiübel, und jeder Atemzug übte nahezu unerträglichen Druck auf seine gequetschten, gebrochenen Rippen aus.
Selbst wenn es ihm irgendwie gelingen würde, aus diesem Haus zu humpeln, wusste er nicht, wie er es die Straße hinab schaffen sollte, und noch viel weniger, wohin er gehen sollte, jetzt, wo die ganze Stadt nach ihm Ausschau hielt.
Die Vorstellung, sich einfach auf eine weiche Matratze sinken zu lassen und die Augen zu schließen, war unglaublich verlockend.
„Bitte, Lord Redmond." Genevieve trat an sein Bett, schlug die zerknitterten Decken zurück und glättete die Laken mit raschen, geübten Handgriffen. Als alles zu ihrer Zufriedenheit hergerichtet war, warf sie ihm einen ernsten Blick zu. „Sie werden hier sicher sein, das verspreche ich
Ihnen."
„Wie kann ich wissen, dass Sie nicht Constable Drummond holen, während ich schlafe?"
„Ich gebe Ihnen mein Wort darauf."
Er machte keine Anstalten, sich hinzulegen. „Warum sollten Sie mir helfen wollen?"
Sie konnte ihm sein Misstrauen nicht verdenken. Keines ihrer Kinder hatte ihr vertraut, als sie in ihre Obhut kamen, außer Jamie natürlich, der noch ein Säugling gewesen war. Vertrauen, das hatte Genevieve gelernt, war ein empfindliches, schwer fassbares Gefühl, das sich nicht einfordern ließ.
„Sie haben Jack geholfen, und Jack gehört nun zu meiner Familie", erklärte sie.
„Betrachten Sie es als Dankesschuld."
Er schüttelte wenig überzeugt den Kopf. „Jeder hätte so gehandelt wie ich."
„Da täuschen Sie sich." Sie wirkte angespannt. „Für die meisten Menschen hier ist Jack nichts weiter als ein gewöhnlicher Dieb und ein Bankert, der jeden einzelnen der sechsunddreißig Peitschenhiebe und all den Hunger und das Elend seiner Kerkerhaft verdient hat. Viele wünschen sogar, er würde einfach ganz verschwinden.
In ganz Inveraray wäre es keinem Mann auch nur im Traum eingefallen, für ihn zu kämpfen - und einem Adligen schon gar nicht." Sie schaute ihn einen Moment lang aufmerksam an, betrachtete die wilde Schönheit seines zerschundenen Körpers und seine erschöpften Züge. „Sie jedoch haben nicht einen Augenblick an Ihr eigenes Leben gedacht und ihm geholfen", fuhr sie ruhig fort. „Und deshalb, Lord Redmond, habe ich beschlossen, nun Ihnen zu helfen."
„Sie bringen sich damit in Gefahr", rief er ihr in Erinnerung.
„Ich weiß."
Ihre Augen waren groß, ihr Blick samtig, ihre blassen Wangen zart gerötet. Die Lippen, noch vor wenigen Augenblicken verächtlich zusammengepresst, verzogen sich nun zu einem bittenden Lächeln. Ihr Liebreiz berührte ihn wie eine sanfte Liebkosung.
„Ich werde nur so lange bleiben, bis ich wieder bei Kräften bin", gab er schließlich nach.
„Natürlich."
Er ging langsam auf sie zu, die Decke dabei fest um die Hüften geschlungen.
Genevieve streckte die Hand aus und legte sie auf seinen Arm, um ihm Halt zu geben, während er sich auf das Bett sinken ließ. Die Wärme seiner Haut sickerte in ihre Handfläche und ließ Genevieve abermals erröten. Sobald er sich hingelegt hatte, löste sie ihren Griff.
„Sie brauchen jetzt Ruhe", sagte sie und achtete sorgfältig darauf, ihn nicht zu berühren, während sie ihn zudeckte. „Ich werde Eunice bitten, Ihnen etwas zu
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