Orphan 1 Der Engel von Inveraray
gegen den Schwindel und die Schmerzen anzukämpfen, und stieg aus dem Bett. Splitterfasernackt.
Genevieves Augen weiteten sich.
Als Kunstliebhaberin hatte sie geglaubt, mit der männlichen Anatomie hinreichend vertraut zu sein, doch abgesehen von den auf Leinwand gebannten oder in Stein gehauenen Männerkörpern beschränkten sich ihre Erfahrungen mit dem männlichen Geschlecht auf den Anblick engelhafter kleiner Knaben. Gewiss, sie hatte vergangene Nacht ausreichend Gelegenheit gehabt, sich mit jeder marmorharten Fläche und jeder wie gemeißelt wirkenden Linie von Lord Redmonds Körper vertraut zu machen, es dabei jedoch sorgfältig vermieden, ihn an jener Stelle zu betrachten.
Nun, da sie sich unverhofft diesem bemerkenswerten Zeugnis seiner Männlichkeit gegenübersah, konnte sie einfach nicht anders, als ihren Blick darauf zu richten.
Das Aufstehen kostete Haydon zu große Anstrengung, als dass er Genevieves plötzliche Faszination bemerkt hätte. „Wissen Sie, wo meine Kleider sind?"
Schlagartig erinnerte sie sich an die Anstandsregeln. Sie rang nach Luft, wandte sich hastig um und versuchte dabei vergeblich, das Gesehene aus ihrem Gedächtnis zu verbannen.
Haydon schaute sie verwirrt an und fragte sich, was wohl in sie gefahren sein mochte.
Dann sickerte allmählich die Erkenntnis in sein fiebriges Hirn, dass er splitternackt vor einer Jungfrau stand.
„Verzeihen Sie!" Er zog hastig eine karierte Decke vom Bett und wickelte sie umständlich um seine Hüften. „Ich wollte Sie nicht erschrecken."
Seine Stimme klang schroff, doch seine Zerknirschung wirkte echt. Mir einen Schreck eingejagt zu haben bekümmert ihn offenbar mehr als die Tatsache, dass er einen Mann erstochen hat, stellte Genevieve verwundert fest. Seine aufrichtige Entschuldigung rührte sie. Lord Redmond besaß ein gewisses Taktgefühl, kein Zweifel.
„Ich habe mich bedeckt, Sie können sich wieder umdrehen, wenn Sie möchten."
Eigentlich hätte Genevieve ihm gern noch eine Weile den Rücken zugekehrt, um sich wieder zu fangen, denn sie war sicher, dass ihre Wangen vor Scham rot angelaufen waren. Doch sie konnte schwerlich weiter an die Wand starren, nachdem er sie aufgefordert hatte, sich umzudrehen, ohne den Eindruck einer verklemmten alten Jungfer zu erwecken, und das war sie gewiss nicht. Sie setzte eine Miene auf, von der sie hoffte, dass sie ruhig und gelassen wirkte, und wandte sich langsam um.
Er stand an den Bettpfosten gelehnt da und hatte eine zerknitterte karierte Decke um die Hüften geschlungen. Sonnenstrahlen fielen auf seinen schönen Körper und erhellten jede Vertiefung und jede Wölbung seines breiten Brustkorbs und seiner muskulösen Gliedmaßen. Eine Aura urwüchsiger, ungezähmter Schönheit umgab ihn. Trotz seiner Schrunden und Blutergüsse strahlte sein sehniger, harter Körper Kraft und Entschlossenheit aus. In diesem Augenblick erinnerte er Genevieve an einen mittelalterlichen Krieger - wild, barbarisch, gefährlich. Sie verspürte den Drang, die Hände auf seine starken breiten Schultern zu legen, mit gespreizten Fingern über seinen straffen flachen Bauch zu gleiten, zu fühlen, wie sein heißes Kriegerblut unter ihren Händen pulsierte, während sie sich an ihn schmiegte.
Entsetzt über die Richtung, die ihre Gedanken eingeschlagen hatten, wandte sie den Blick von ihm ab.
„Meine Kleider", wiederholte Haydon, der seine ganze Kraft aufbieten musste, um sich auf den Beinen zu halten, und keine Ahnung von der Wirkung hatte, die er auf Genevieve ausübte. „Ich brauche meine Kleider."
„Oliver hat sie verbrannt", brachte sie mühsam hervor. „Wir konnten nicht riskieren, dass jemand eine Häftlingskluft bei uns findet."
„Dann werde ich etwas anderes anziehen müssen."
Sie betrachtete ihn erneut. Er drückte die Stirn an den Bettpfosten, das Gesicht schmerzverzerrt. Offenbar konnte er sich kaum noch aufrecht halten. Sorge stieg in ihr auf und vertrieb augenblicklich jedes Gefühl von Erregung und Furcht. Sie hatte diesen Mann die ganze Nacht hindurch gepflegt und dabei stets befürchtet, er könne plötzlich seinen Verletzungen erliegen. Er war noch immer sehr krank und schwach. Vielleicht hatte sein Aufstehen innere Blutungen ausgelöst.
Wie konnte sie auch nur daran denken, ihn in einem solchen Zustand gehen zu lassen - vor allem, wenn er dies offenbar nur aus Sorge um sie tun wollte?
„Bitte legen Sie sich wieder hin, Lord Redmond."
Haydon schaute sie argwöhnisch an. „Damit Sie Constable
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