Ort der Angst (German Edition)
Bewegungen schwingen ließen. Ihre Münder lächelten ihm unter dem Schädelmakeup zu, als er sich unsicheren Schrittes zwischen ihnen hindurchdrängelte. Immer wieder spürte er, wie der seidige Stoff ihrer Gewänder ihn berührte. Paul glaubte, noch immer an den Nachwirkungen des Alkohols zu leiden. Er konnte nicht klar denken, geschweige denn richtig sehen. Konturen und Farben der bunten Kostüme um ihn herum verschmolzen vor seinen Augen zu einer bewegten Masse schillernder Flecken. Er rieb sich über das Gesicht und zwang sich weiterzugehen, bis er eine Straßenlaterne erreichte, an der er sich festhalten konnte. In seinem Rücken ertönte Gelächter. Die Leute mussten glauben, er sei sturzbetrunken. Es folgte ein neuer Erstickungsanfall. Wie schon zuvor in seinem Büro. Paul würgte, spuckte auf den Asphalt und stolperte durch eine Nebenstraße. Ein Stück voraus nahm er einen friedvollen Anblick wahr, der ihn magisch anzog. Es entbehrte jeder Logik, aber er wollte es unbedingt dorthin schaffen. Als würde er von unsichtbaren Verfolgern gehetzt, warf er sich gegen das verschnörkelte Eisentor des Friedhofs und zog es auf. Der gesamte Gottesacker schimmerte in einem Meer gelbflackernder Kerzen und duftender Tagetes. Diese Gaben sollten anlässlich des Fests die verstorbenen Ahnen anlocken und ihnen den Weg weisen.
Paul kam nur noch ein paar Meter weiter. Dann, am Ende seiner Kräfte angelangt, geriet er ins Straucheln, stieß etliche Totenlichter um und brach über einem der blumengeschmückten Gräber zusammen. In blaukringligen Bahnen umwehte ihn der Rauch erloschener Kerzen und verflog. Krampfhaft griff sich Paul an die Kehle. Ein höllisches Brennen erfüllte seine Luftröhre, der Brustkorb hob und senkte sich ruckartig, während die Lungen um jeden Atemzug kämpfen mussten.
Die Gestalt einer Frau kam auf ihn zu. Paul wollte sie um Hilfe bitten, doch er konnte noch immer nicht sprechen. Sie stand nur da und blickte auf ihn herab. Durch seine verschwommene Sicht erinnerte sie ihn an Maria. Ach, wie gerne hätte er seiner Geliebten gesagt, dass er unzählige Male hinabgetaucht war, um nach ihr zu suchen. Vergeblich.
Sie beugte sich zu ihm und streckte die Hand aus. Ohne darüber nachzudenken, was er tat, langte Paul in seine Hosentasche und holte den eingewickelten Gegenstand hervor, um ihn der Frau zu geben. Die aber zog sich zurück und richtete sich wieder auf. Er verstand nicht, versuchte nach ihrem Rocksaum zu greifen; seine Hand fuhr hindurch, als sei es Luft.
Du hättest es nicht nehmen dürfen, schoss es ihm durch den Kopf. Paul verlor das Bewusstsein.
Kapitel 17
Endlich hörte der Junge auf zu weinen und schlummerte ein. Agueda wiegte das Kind zärtlich in ihren Armen und summte ein Schlaflied. Miguel räusperte sich und holte tief Luft, um in den Gesang seiner Frau einzustimmen.
„Nicht!“, flüsterte sie. „Willst du, dass er gleich wieder aufwacht?“ Rasche Schritte hallten durch die Gasse. Jemand kam ihnen nachgelaufen.
„Wartet!“, rief die Stimme eines Nachbarn. „Ihr müsst sofort zurück zum Friedhof kommen! Ein Betrunkener hat euer Familiengrab verwüstet!“
Voller Sorge bat Miguel den Mann, Agueda und den kleinen Ricardo nach Hause zu begleiten, damit er die Lage selbst in Augenschein nehmen konnte. Das Schlimmste befürchtend kehrte er um und stellte erleichtert fest, dass kein großer Schaden entstanden war.
Mit den Fingernägeln kratzte Miguel Wachsspritzer von der Grabplatte seiner Eltern und seufzte. Dann stellte er die umgekippten Pflanzgefäße wieder auf und klaubte die verstreuten Cempasúchitl zusammen. Zwischen den Blumen fand er ein Papierknäuel. Als er es auf die Seite zu dem übrigen Abfall legen wollte, glitt etwas Schweres zwischen dem Papier heraus und fiel mit einem dumpfen Geräusch auf die Erde; eine Kugel. Überrascht hob er sie auf und betrachtete sie gegen den Kerzenschein. Die Oberfläche war spiegelglatt und schimmerte in sattem Grün.
Eine große Murmel? Als kleiner Junge hatte ich eine, die fast genauso groß war, aber im Gegensatz zu dieser war meine durchsichtig und innen voller eingeschlossener Luftblasen. Da hat wohl jemand seinen Glücksbringer verloren. Wahrscheinlich der Betrunkene, dachte Miguel und musste lächeln. Ein warmes Prickeln breitete sich auf seiner Handfläche aus, als er mit dem Daumen über den glänzenden Gegenstand strich.
Ohne den Blumen auf dem Grab seiner Eltern frisches Wasser zu geben, ging Miguel nach
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