Ort der Angst (German Edition)
behandelt worden. Das Etikett einer leeren Tequilaflasche nahm sein gesamtes Sichtfeld ein und es dauerte geraume Zeit, bis er sich erinnerte, wo er überhaupt war. Es kostete ihn große Mühe, den Kopf von der Schreibtischplatte zu lösen und den Oberkörper aufzurichten. Gerne hätte er den üblen Geschmack in seinem Mund mit einem Schluck Alkohol fortgespült, aber es war nichts mehr da; weder Tequila, noch genug Bares, um welchen zu kaufen. Was er Oliver Stunden zuvor zugesteckt hatte, war sein letztes Geld gewesen. Verdammter Stolz!
Aber noch stand Paul Sandner nicht ganz mit leeren Händen da. Es gab da jemanden, mit dem er jederzeit gewinnbringende Geschäfte abschließen konnte, sofern er etwas Interessantes zu bieten hatte. Sich an der Lehne seines Stuhls abstützend stand er auf, torkelte zu dem eingedellten Metallschrank und entriegelte das Schloss. Hier verwahrte er seine wenigen noch verbliebenen Schätze. Zwei der Gegenstände befanden sich erst seit Kurzem in seinem Besitz. Den größeren von beiden wollte Paul vorerst noch behalten, aber den anderen …; sofort fesselte das Kleinod seine gesamte Aufmerksamkeit, wie es dort in geheimnisvollem Glanz vor ihm lag. Ein fiebriger Schauer durchfuhr Pauls Körper. Das Ding musste echt sein und brachte mit Sicherheit eine Menge Geld. Jedem Sammler musste das Herz bei solch einem Anblick höher schlagen. Paul hingegen verspürte schon Erleichterung bei der Vorstellung, es rasch wieder loszuwerden, selbst wenn das bedeutete, weit unter Wert verkaufen zu müssen. Die irrationale Abneigung, die er diesem Gegenstand gegenüber verspürte, erklärte sich Paul mit dem Umstand, dass er ihn von dem Tauchgang mitgebracht hatte, bei dem Maria verschwand. Er nahm einen Fetzen Papier, wickelte die Kostbarkeit hinein und steckte sie hastig in die Hosentasche. Dann ging er zum Telefon und wählte eine Nummer. Lange Zeit ertönte nur das Freizeichen. Paul fuhr sich über die Kehle. Sein Hals tat weh. Als sich endlich am anderen Ende der Leitung eine männliche Stimme meldete und Paul antworten wollte, brachte er nur ein Krächzen hervor.
„Hallo! Wer ist da?“, wollte die Stimme wissen.
Paul ließ das Telefon fallen und rang nach Luft. Seine Zunge fühlte sich wie ein geschwollener Fremdkörper an, der sich nach hinten in den Rachen schob.
„Was war das für ein Lärm? Ist da jemand?“, quäkte es aus dem am Boden liegenden Apparat, während Paul sich krümmte und verzweifelt versuchte, seine Zunge zu packen.
„Idiota!“, schimpfte der andere aus dem Hörer und legte auf.
Allmählich ebbten die Schmerzen ab und auch Pauls Zunge fühlte sich wieder normal an.
Was in drei Teufels Namen war das? Noch unsicher auf den Beinen legte er die Hand auf seine Hosentasche, in welcher der eigewickelte Gegenstand steckte. Das Päckchen fühlte sich selbst durch den Stoff hindurch ungewöhnlich warm an. Normalerweise war Paul alles andere als abergläubisch, aber in seinem angespannten Zustand und nach dem, was eben geschehen war, hätte er das Ding am liebsten aus dem Fenster geschleudert – möglichst weit fort. Aber er brauchte Geld, und zwar schnell! Einen weiteren Versuch, seinen Geschäftspartner anzurufen, ersparte er sich. Eigentlich konnte er den Mann auch direkt aufsuchen. Ein zehnminütiger Fußmarsch und er wäre dort. Dann gäbe es für Paul ein paar Probleme weniger.
Entschlossen schleppte er sich aus dem Gebäude, verriegelte die Tür und machte sich auf den Weg. Ein paar Straßen weiter stieß er auf den Festzug des Día de los Muertos. Eine gute Gelegenheit, kurz stehenzubleiben und sich eine Verschnaufpause zu gönnen, während er der Parade zusah. Er fühlte sich miserabel.
Als Totenrösser verkleidete Pferde klapperten an ihm vorüber und zogen einen Festwagen; obenauf ein riesiges Xylophon. Tanzende Skelette mit Knochenschlägeln hämmerten auf das überdimensionierte Instrument ein, während am hinteren Ende des Wagens unter einem Torbogen aus orangefarbenen Glühlampen als Gerippe kostümierte Trompeter und Gitarristen in schwarzen Anzügen und Sombreros ihr Können zum Besten gaben.
Paul wartete eine Lücke zwischen zwei Paradegruppen ab, dann tappte er weiter. Er musste auf die andere Seite gelangen. Ein Hustenanfall zwang ihn, mitten auf der Straße anzuhalten, wodurch er in einen Pulk buntgekleideter Tänzerinnen geriet. Die aufgetürmten Frisuren der Frauen wippten im Takt zur Musik, während sie sich drehten und ihre weiten Röcke in wehenden
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