Ort der Angst (German Edition)
sich getragen. Da der Mediziner einen Schwächeanfall in Verbindung mit einem harmlosen Rausch für die Ursache des Zusammenbruchs hielt, hatte er seinen Patienten nach Hause bringen lassen und angekündigt, im Laufe des folgenden Tages nochmals nach ihm zu sehen.
Paul keuchte und schloss die Augen. Blind tastete er nach dem Schlüssel, den er an einer Kette um den Hals trug und gab ihn seinem Sohn. „Damit öffnest du den Metallschrank dort drüben. Was du fortbringen sollst, ist in dem Bündel ganz zuvorderst. Mein Notizbuch liegt daneben. Ich habe genau aufgezeichnet, wo die Stelle ist!“ Ein Rasseln begleitete jeden seiner Atemzüge. „Trotzdem wirst du dich alleine verirren. Morgen gehst du zum Gasthaus Picardía!“ Paul hielt inne, presste die Lippen aufeinander und kämpfte seinen Husten nieder, bevor er weitersprach. „Dort fragst du nach Tlacaelel, ein Freund von mir. Er ist einer der letzten Chicleros in der Gegend. Als Gummisammler kennt er den Urwald wie kein anderer. Zeig ihm die Aufzeichnungen, dann wird er dir helfen.“
Oliver drückte die Hand seines Vaters, ging zum Schrank und nahm die Sachen heraus.
Paul machte eine abwehrende Geste, als sein Sohn das Tuch auseinanderschlagen wollte. „Bring es einfach zurück. Leg es oben am Eingang ab und schichte ein paar Steine darüber, das sollte genügen. Wirst du wiederkommen, wenn das erledigt ist?“
„Natürlich!“
„Ich kann gar nicht sagen, wie dankbar ich dir bin. Du machst mich stolz!“
Sein Sohn lächelte matt und ging zur Tür.
„Oliver!“
Der blieb stehen und blickte zurück. „Ja?“
„Wegen deiner Mutter!“ Paul legte eine längere Pause ein und schluckte. „Es war richtig von ihr, sich scheiden zu lassen! Jede vernünftige Frau hätte dasselbe getan! Männer wie ich bringen kein Glück!“
Oliver schüttelte den Kopf, hob die Hand zum Abschied und ging.
Lügner, Betrüger, Dieb; Paul starrte an die fleckige Zimmerdecke und überlegte, welche dieser Bezeichnungen am besten zu ihm passte. Vielleicht konnte er doch noch ein anständiges Leben führen und die Sache mit dem Tauchclub durchziehen, anstatt sich mit dem Verkauf von Kunstschätzen oder anderen zwielichtigen Geschäften zu bereichern.
Er war dankbar, dass Oliver vom Äußeren abgesehen ganz nach seiner Mutter kam.
Paul dachte an die smaragdfarbene Kugel. Obwohl er den finanziellen Verlust bedauerte, ging es ihm besser, seit er aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht und der Stein nicht mehr in seiner Nähe war. Das konnte aber auch an den Medikamenten liegen, die ihm der Arzt gegeben hatte. Paul drehte sich auf die Seite und langte nach der Tablettenschachtel neben der Matratze. Für einen kurzen Moment wurde es dunkler. Misstrauisch blickte er auf. Ging die Birne schon wieder kaputt oder stimmte etwas mit den Stromleitungen nicht?
Insekten, die sich eben noch um die Lichtquelle geschart hatten, huschten in Zickzackmustern davon. Manche hörten einfach auf, mit den Flügeln zu schlagen und trudelten leblos herab. Was ging hier vor?
Paul richtete sich auf. Die verstörenden Gedanken, die er seit Tagen niederkämpfte, indem er sich mit Alkohol betäubte, kehrten zurück.
Hätte ich es tiefer in meinen Verstand gelassen, verstünde ich vielleicht … Paul presste die Hände gegen seinen Schädel. Mein Bewusstsein gehört mir! Es war ein Fehler, sich zu wehren, widersprach er sich im Geiste selbst. Erschrocken riss er die Augen auf. Ein unstetes Flimmern bewegte sich durch den Raum. Es ging nicht von der Lampe aus. Etwas in der Umgebung fraß das Licht förmlich auf. Die Luft begann zu knistern. Ein vielstimmiges Wispern formte sich aus dem Nichts und ließ ihn schaudern.
„Was geht hier vor?“ Panisch rappelte er sich auf und taumelte zur Tür. Die Dunkelheit verdichtete sich weiter. Ein stechender Schmerz durchfuhr seine Beine, sie gehorchten ihm nicht länger und gaben nach. Er kippte und schlug mit dem Rücken auf. Seine Wirbelsäule bog sich durch, die Fersen schabten über den Boden. Schwärze beherrschte jetzt alles. Sein ganzer Körper verfiel in unkontrollierte Zuckungen, wie bei einem epileptischen Anfall. Unter dem knirschenden Mahlen seines Kiefers zerbiss er die eigene Zunge. Gurgelnde Schmatzlaute drangen aus seinem Mund. Paul Sandner erstickte an seinem eigenen Blut.
Kapitel 21
Zunächst sah es nur aus, wie ein dünner roter Faden. Dann klaffte der Schnitt auseinander und Blut schoss hervor. Mit einem hellen Blitzen zog sich die
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