Ort der Angst (German Edition)
wieder bewusst, wo er sich eigentlich befand. Vor ihm stand noch immer der König und sprach von seiner Reise durch die Unterwelt.
„Noch war ich nicht am Ziel!“, hallte seine Stimme erneut über den Platz. „Endlose Dunkelheit raubte mir den Sinn für Zeit und Raum. Hunger und Kälte drohten, mich zu verzehren. Bevor dies geschehen konnte, tat ich, weswegen ich diese Reise mit all ihren Schrecken angetreten hatte. Ich führte die heiligen Riten durch und horchte in die Finsternis. Nichts geschah. Umkehren konnte ich nicht mehr. Mir blieb keine andere Wahl, als auf den Tod zu warten. Und er kam; endlich stand ich den Herren Xibalbás gegenüber.“
Rufe des Erstaunens drangen aus der Menschenmenge, verstummten aber sofort wieder, als Ek Balam weitersprach.
„Wir hielten Rat und sie ließen mich wissen, was sie von uns erwarten. Sie schenkten mir ihren Segen und sicherten mir Chaacs Wohlwollen zu.“ Bei diesen Worten drehte er die Handflächen nach oben und richtete den Blick gen Himmel. Seit der Rückkehr des Königs regnete es ohne Unterlass.
Und was ist mit den Opfern, die ich in deiner Abwesenheit dargebracht habe? Der Regengott ist mir gewogen, dachte Xaman voller Ingrimm und verbarg die geballten Fäuste in den Falten seiner Robe. Niemand durfte es sehen. Die Hochrufe der Menge, die einzig ihrem Herrscher galten, erfüllten Xaman mit Bitterkeit. Erst nach geraumer Zeit ebbten die Schreie der Begeisterung wieder ab. Der Wind frischte auf und ließ die schweren Vorhänge in Xamans Rücken geräuschvoll aneinanderschlagen.
Abermals erklang die Stimme des Königs. Er erklärte, die Zusicherung des Regens sei nicht das Einzige gewesen, worüber die Herren der Unterwelt mit ihm sprachen. Eine Bedrohung von solchem Ausmaß rücke näher, dass die Götter voller Besorgnis beschlossen hätten, ihr Wissen um die nahe Zukunft mit den Menschen zu teilen: Fremde von eigenartigem Äußeren in glänzenden Gewändern werden über das Meer kommen, um sich schon bald wie eine Seuche über das Land zu ergießen, das Volk der Maya in den Staub zu treten und alle Reichtümer an sich zu reißen.
Wovon um alles in der Welt redete Ek Balam? Genügte es nicht, dass er sich als Retter aufspielte, indem er ihnen eine fantastische Geschichte auftischte, nachdem er sich vermutlich im Dschungel versteckt hatte, bis endlich Wolken aufzogen? Xaman wollte den Worten seines Herrschers keinen Glauben schenken. Wenn der König Xibalbá tatsächlich durchquert und Rat von den Göttern erbeten hätte, warum sprach er dann nicht zuerst mit seinen Priestern darüber, damit die Geschichte exakt aufgezeichnet werden konnte? Stattdessen speiste er sie mit einem vagen Bericht ab, der allenfalls Leichtgläubige und Kinder beeindrucken konnte. Musste er sie darüber hinaus mit einem weiteren Lügengespinst beleidigen, das von mysteriösen Feinden handelte?
Selbst wenn ein Krieg bevorstünde, warum sollte dies den Göttern missfallen oder ihnen Sorge bereiten? Die Aussicht auf Gefangene musste sie erfreuen!
„Warum, so werdet ihr euch fragen, sollte den Göttern daran gelegen sein, ihr Wissen mit uns zu teilen?“ Der Herrscher legte eine Pause ein, um seine Worte auf die Menge wirken zu lassen, ehe er weitersprach. „Die Antwort ist einfach. Wir müssen vorbereitet sein. Sich einem übermächtigen Feind blind entgegenzuwerfen, würde den sicheren Untergang bedeuten. Dazu darf es nicht kommen! Dieser Gegner wird sich nicht damit begnügen, unsere heiligen Stätten zu schänden und die Tempel niederzureißen. Uns erwartet mehr als ein Krieg unter Menschen. Der Feind trachtet danach, die Götter zu vernichten!“
Schreie des Entsetzens verbreiteten sich unter den Zuhörern, ein Tumult drohte auszubrechen. Ehe die Situation außer Kontrolle geriet, brachte der König das Volk mit donnernder Stimme erneut zum Schweigen.
„Es liegt an uns!“
Gebannt blickten die Menschen zu ihrem Gottkönig auf.
„Die Eindringlinge müssen vernichtet werden! Doch wenn wir uns weiterhin gegenseitig abschlachten wie bisher, wird uns das nicht gelingen! Wir müssen Boten aussenden und Frieden mit unseren Nachbarn schließen! Nur ein großes, ein dauerhaftes Bündnis wird es uns ermöglichen, den Feind zurück ins Meer zu treiben!“
Windböen fegten den Regen in Schwaden über den Platz. Ansonsten herrschte Stille; zu ungeheuerlich schien das soeben Gehörte.
Xamans Gedanken waren in Aufruhr, doch er sagte nichts. Seine Bestimmung lag nicht darin, als
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