Ort des Grauens
Selbstmordkandidat, wenn man aus einem Glas trank, aus dem schon eine anderer getrunken hatte. Aber nach einem Tag im superlogischen Mikrochip-Universum mußte Lee ein wenig wild sein, ein paar Risiken eingehen, am Rande des Chaos tanzen, um sein Leben wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
Dann fiel ihm ein, wie Frank und Bobby vor seinen Augen verschwunden waren. Er fragte sich, ob er nicht vielleicht doch schon genug Aufregung gehabt hatte für einen einzigen Tag.
Er nahm den Packen mit den neuesten Ausdrucken. Es waren weitere Informationen, die er aus den Polizeiakten gezogen hatte, nachdem er mehr über das gruselige Verhalten von Mr. Blau erfahren hatte, der wohl niemals ein bißchen verrückt zu spielen brauchte, um im Gleichgewicht zu bleiben, da er bereits das Chaos war. Ein Chaos, das in Schuhen herumlief. Lee öffnete die Tür, knipste das Licht aus und ging durch den Korridor sowie eine weitere Tür in die Empfangshalle. Er hatte vor, die Ausdrucke auf Julies Schreibtisch zu legen und Hal gute Nacht zu sagen, bevor er ging.
Als er Bobbys und Julies Büro betrat, sah es aus, als habe der Nationale Ringerverband dort einen Kampf zwischen Dreihundert-Pfund-Kolossen veranstaltet. Die Möbel waren umgekippt, Whiskygläser -einige zerbrochen - waren über den Boden verteilt, Julies Schreibtisch war krumm und schief und hing nur noch auf einem zerschmetterten Bein er sah so aus, als habe ihn jemand mit Stemmeisen und Hämmern bearbeitet.
»Hal?«
Keine Antwort.
Vorsichtig stieß er die Tür zum Waschraum auf.
»Hal?«
Der Waschraum war leer.
Er ging zu dem zerbrochenen Fenster. Im Rahmen hingen immer noch einige kleinere Scherben. Fingen das Licht ein. Ausgezackt. Mit einer Hand hielt sich Lee Chen an der Wand fest und beugte sich dann vorsichtig vor. Er sah hinunter. »Hal?« fragte er nun in einem ganz anderen Ton.
Candy materialisierte sich in der Halle des Hauses der Dakotas, das dunkel und still war. Einen Moment blieb er mit gesenktem Blick ruhig stehen, bis er ganz sicher war, auch wirklich allein zu sein.
Seine Kehle war wieder heil. Er war wieder er selbst, und die Aussichten, die diese Nacht noch versprachen, erregten ihn.
Er begann seine Suche von der Halle aus und legte die Hand auf den Türknauf, in der Hoffnung, dort eine Spur von dem zu finden, was sein Visionen nährte, auch wenn sie jeder physischen Substanz entbehrte. Er spürte nichts, was zweifellos daran lag, daß die Dakotas ihn nur kurz berührt hatten, als sie das Haus betraten und es wieder verließen.
Natürlich konnte ein Mensch hundert Dinge in die Hand nehmen, aber nur auf einem davon ein psychisches Bild hinterlassen, dann dieselben Dinge eine Stunde später noch einmal berühren und jedes einzelne mit seiner Aura versehen. Der Grund dafür war Candy ebenso verborgen geblieben wie das mysteriöse Interesse an Sex, das so viele Leute hatten. Er war seiner Mutter für dieses Talent so dankbar wie für all die anderen, obwohl es nicht immer ein leichter und unfehlbarer Prozeß war, seine Opfer mit Hilfe der Psychometrie aufzuspüren.
Das Wohn- und das Eßzimmer der Dakotas waren unmöbliert, so daß er dort wenig Arbeit hatte. Trotzdem fühlte er sich in den leeren Räumen aus irgendeinem Grunde wohl, sogar fast heimisch. Diese Reaktion verwirrte ihn. Die Räume im Haus seiner Mutter waren alle möbliert -heutzutage aber ebenso voll mit Schimmelpilzen, Moder und Staub wie mit Stühlen, Sofas, Tischen und Lampen. Doch plötzlich wurde ihm bewußt, daß er -wie die Dakotas -nur einen Bruchteil der gesamten Wohnfläche bewohnte, daß die meisten der anderen Kammern ebensogut leer, ohne Teppiche und versiegelt sein könnten.
In der Küche und dem kleinen Frühstückszimmer der Dakotas standen Möbel, und offenbar waren diese Räume auch bewohnt. Obwohl es ziemlich unwahrscheinlich war, daß sich die beiden während ihres kurzen Stopps – zwischen Büro und wohin-auch-immer-sie-wollten -länger hier aufgehalten hatten, hoffte er doch, daß sie möglicherweise in der Küche eine Kleinigkeit gegessen oder etwas getrunken hatten. Aber die Griffe der Wandschränke, der Mikrowelle, des Herdes und des Kühlschranks boten ihm keinerlei Anhaltspunkte.
Auf seinem Weg in den zweiten Stock stieg Candy die Treppe ganz langsam hinauf und ließ die linke Hand dabei suchend über das Eichengeländer gleiten. An etlichen Punkten wurde er mit psychischen Bildern belohnt, die zwar kurz und nicht besonders klar waren, ihn aber dennoch
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