Ort des Grauens
und spähte an seiner Schwester vorbei. »Hi, Bobby!« »Hi, Thomas! Du siehst gut aus.« »Tatsächlich?« »Wenn ich lüge, will ich tot umfallen.« Thomas lachte. »Er ist lustig«, sagte er zu Julie. »Werde ich auch mal umarmt?« erkundigte sich Bobby.
»Oder muß ich hier mit ausgebreiteten Armen stehen, bis mich jemand mit einem Hutständer verwechselt?«
Widerstrebend löste sich Thomas von seiner Schwester. Er und Bobby umarmten sich. Selbst nach all diesen Jahren fühlte sich Thomas in Bobbys Gegenwart noch nicht hundertprozentig wohl, was nicht daran lag, daß es zwischen ihnen nicht stimmte oder es da irgendwelche Haßgefühle gegeben hätte, sondern daran, daß Thomas Veränderungen nicht besonders mochte und sich ihnen sehr langsam anpaßte. Sogar nach mehr als sieben Jahren war die Tatsache, daß seine Schwester verheiratet war, für ihn eine Veränderung, etwas, das für ihn noch immer neu war.
Aber er mag mich, dachte Bobby, möglicherweise sogar so sehr wie ich ihn.
DS-Opfer zu mögen, war nicht schwer, sobald man das Mitleid überwunden hatte, das einen zunächst von ihnen entfernte, weil die meisten von ihnen über eine Unschuld und Arglosigkeit verfügten, die liebenswert und erfrischend war. Zumeist waren sie direkter und aufrichtiger als andere - es sei denn, ihre Schüchternheit oder ihre Verlegenheit standen ihnen im Wege, die sie wegen der Unterschiede zu anderen Menschen empfanden. Daher waren sie auch unfähig, die kleinlichen gesellschaftlichen Spielchen und Intrigen auszuüben, die so viele Beziehungen unter »normalen« Menschen beeinträchtigten.
Im letzten Sommer hatte die Mutter eines der anderen Patienten beim Picknick, das das Cielo-Vista-Heim am 4. Juli traditionell veranstaltete, zu Bobby gesagt: »Wenn ich sie so beobachte, denke ich manchmal, da ist etwas an ihnen – eine Zärtlichkeit, eine besondere Freundlichkeit -, das sie Gott näher sein läßt als uns.«
Bobby fühlte den Wahrheitsgehalt dieser Beobachtung in diesem Augenblick bestätigt, als er Thomas umarmte und in sein süßes, massiges Gesicht hinunterschaute.
»Haben wir dich bei einem Gedicht unterbrochen?« fragte Julie.
Thomas ließ Bobby los und eilte zu dem Arbeitstisch, wo Julie sich die Zeitschrift ansah, aus der er ein Bild ausgeschnitten hatte, als sie hereingekommen waren. Er öffnete sein derzeitiges Album -vierzehn andere waren bereits mit seinen Kreationen gefüllt und standen ordentlich in einem Eckregal in der Nähe seines Bettes -und deutete auf eine Doppelseite, auf die ausgeschnittene Bilder in einer Anordnung eingeklebt waren, die an die Verse und Vierzeiler echter Lyrik erinnerten.
»Das hab' ich gestern gemacht. Gestern zu Ende gemacht«, erklärte Thomas. »Hat mich eine laaange Zeit gekostet, und es war sehr schwer, aber jetzt war es ... ist es ... richtig.«
Vor vier, fünf Jahren hatte Thomas beschlossen, ein Dichter zu werden -wie jemand, den er im Fernsehen gesehen und bewundert hatte. Der Grad der geistigen Behinderung unter den Opfern des Down Syndrom variierte sehr und reichte von leicht bis sehr stark. Thomas lag irgendwo in der Mitte des Spektrums, verfügte allerdings nicht über die intellektuelle Kapazität, mehr als seinen Namen schreiben zu lernen. Das konnte ihn aber nicht abhalten. Er hatte um Papier, Leim, ein Album und Stapel alter Magazine gebeten. Da er kaum einmal um etwas bat und Julie Berge versetzt hätte, um ihm alles zu geben, was er wollte, war er bald im Besitz der Gegenstände auf seiner Liste.
»Alle Arten von Zeitschriften«, hatte er gefordert, »mit verschiedenen hübschen Bildern ... aber mit häßlichen auch ... alle Arten von Bildern.« Aus Time, Newsweek, Life, Hot Rod, Omni, Seventeen und einem Dutzend anderer Publikationen schnitt er komplette Bilder und Teile von Bildern aus und arrangierte die Einzelteile nebeneinander, als wären sie Wörter, machte so Statements, die ihm wichtig waren. Einige seiner »Gedichte« waren nur fünf Bilder lang, und andere umfaßten Hunderte von Ausschnitten, zusammengestellt zu ordentlichen Strophen, oder, was häufiger geschah, in locker strukturierten Gedichtzeilen, die eher dem freien Versmaß entsprachen.
Julie nahm ihm das Album weg und ging zu dem Sessel neben dem Fenster, wo sie sich auf seine neueste Kreation besser konzentrieren konnte. Thomas blieb am Arbeitstisch und beobachtete sie gespannt.
Seine Bildergedichte erzählten keine Geschichten, noch handelte es sich um erkennbare thematische
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