Ort des Grauens
Traums bedeckt hatten. Die Bäume beugten sich den wogenden Ozeanen aus Luft, die sich wie eine mächtige und ziellose Flut auf die wirkliche See im Westen zubewegten. Die Nebel der vorangegangenen Nacht waren verflogen, und der Tag war so klar, daß man von den Hügeln aus Catalina Island sehen konnte, die Insel, die etwa vierzig Kilometer vor der Pazifikküste liegt.
Julie schob eine Artie-Shaw-CD in das Abspielgerät, und die sanfte Melodie und die weichen, schwungvollen Rhythmen von »Begin the Beguine« erfüllten den Wagen. Die schmelzenden Saxophone von Les Robinson, Hank Freeman, Tony Pastor und Ronnie Perry bildeten einen eigenartigen Kontrapunkt zum Chaos und zu den Mißklängen der Fallwinde.
Von Orange fuhr Bobby erst nach Süden, dann nach Westen auf die Strandstädte zu -Newport, Corona Del Mär, Laguna, Dana Point. Soweit ihm das möglich war, benutzte er die wenigen urbanisierten Asphaltstraßen, die man immer noch Nebenstraßen nennen konnte. Sie fuhren sogar an einigen der Orangenhaine vorbei, mit denen das County früher einmal »gepflastert« gewesen war, die aber der erbarmungslosen Ausbreitung der Wohnsiedlungen und Einkaufspassagen zum Opfer gefallen waren.
Julie wurde redseliger und temperamentvoller, während der Tachometer Kilometer um Kilometer anzeigte, doch Bobby wußte, daß die koboldhafte Laune nicht echt war. Jedesmal, wenn sie aufbrachen, um ihren Bruder Thomas zu besuchen, gab sie sich große Mühe, ihre Stimmung anzuheizen. Obwohl sie Thomas liebte, brach ihr Herz jedesmal aufs neue, wenn sie bei ihm war, also mußte sie sich mit aufgesetzter guter Laune im vorhinein selbst dagegen wappnen.
»Nicht ein Wölkchen am Himmel«, sagte sie, als sie an der alten Abpackanlage für Orangen der Irvine-Ranch vorbeifuhren. »Ist das nicht ein wundervoller Tag, Bobby?«
»Ein wundervoller Tag«, stimmte er zu.
»Der Wind muß alle Wolken bis nach Japan geblasen und sie über Tokio aufgehäuft haben.«
»Klar. Just in diesem Moment fällt kalifornischer Dreck auf die Ginza.«
Hunderte von Bougainvillea-Blüten, vom Sturm von ihren Ranken gerissen, wurden über die Straße geweht, und einen Augenblick sah es so aus, als sei der Samurai in einem blutroten Schneesturm gefangen. Möglicherweise lag es ja nur daran, daß sie eben über Japan gesprochen hatten, doch an diesem Wirbel der Blütenblätter war etwas Fernöstliches. Er wäre nicht überrascht gewesen, am Straßenrand eine Frau im Kimono zu sehen, in Sonnenschein und Schatten getaucht.
»Selbst ein Sturm ist hier wunderschön«, bemerkte Julie. »Haben wir nicht Glück, Bobby, hier zu leben?«
Shaws »Frenesi« erklang. Swing mit vielen Streichinstrumenten. Jedesmal wenn er diesen Song hörte, stellte Bobby sich vor, einen Film aus den Dreißigern oder Vierzigern mitzuerleben, glaubte fast, hinter der nächsten Ecke würde er seinen alten Freund Jimmy Stewart treffen, oder möglicherweise Bing Cosby, und sie würden sich gemeinsam aufmachen um mit Cary Grant, Jean Arthur und Katherine Hepburn zu Mittag zu essen, und die verrücktesten Sachen würden passieren.
»In welchem Film bist du gerade?« fragte Julie. Sie kannte ihn zu gut.
»Bin mir noch nicht ganz sicher. Vielleicht The Philadelphia Story.«
Zu dem Zeitpunkt, da sie auf den Parkplatz des Cielo-Vista-Pflegeheims einbogen, hatte sich Julie in ein Stadium allerbester Laune gesteigert. Sie stieg aus dem Samurai, wandte sich nach Westen und lächelte den Horizont an, der die Ehe von Meer und Himmel besiegelte, als hätte sie noch nie etwas Vergleichbares gesehen. Es war wirklich ein faszinierendes Panorama, weil Cielo Vista, anderthalb Kilometer vom Ozean entfernt, auf einer Klippe lag, von der man einen langen Streifen der Goldküste Südkaliforniens überblicken konnte. Auch Bobby bewunderte die Aussicht. Wegen des kühlen, böigen Windes stand er mit etwas hochgezogenen Schultern und gesenktem Kopf da.
Als Julie soweit war, nahm sie Bobbys Hand, drückte sie fest, und sie gingen hinein.
Das Cielo-Vista-Pflegeheim war eine private Institution, die ohne staatliche Unterstützung auskam, was schon seineArchitektur bewies, die nicht die geringste Ähnlichkeit mit den üblichen öffentlichen Einrichtungen hatte. Die zweistöckige spanische Stuckfassade in ihrem blaß pfirsischfarbenen Ton wurde von Eckpfeilern, Türrahmen und Fensterstürzen aus weißem Marmor betont. Die weiß gestrichenen Terrassenfenster und -türen lagen zurückgesetzt unter graziösen Bögen. Die
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