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Ort des Grauens

Ort des Grauens

Titel: Ort des Grauens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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Spazierwege wurden von Laubengängen beschattet, deren Gitterwerk mit einer Mischung von purpurfarbenen und gelbblühenden Bougainvillea bewachsen war.
    In diesen Gängen verursachte der Wind ein drängendes Flüstern. Die Flure im Inneren waren mit grauen Kunststoff-Fliesen ausgelegt, die pfirsichfarben und türkis gesprenkelt waren, und die Wände waren pfirsichfarben, nur unten und an der Decke weiß abgesetzt, was das Haus warm und luftig erscheinen ließ.
    In der Halle, gleich hinter der Eingangstür, blieben sie kurz stehen, und Julie holte einen Kamm aus der Handtasche, um ihr windzerzaustes Haar zu ordnen. Nach einem kurzen Aufenthalt am Empfang in der gemütlichen Besu-cher-Lobby, gingen sie in den Nordflügel, wo Thomas' Zimmer im ersten Stock lag.
    Seines war das zweite der beiden Betten, jenes, das näher am Fenster stand, doch er war weder da noch in seinem Sessel. Als sie in der offenen Tür stehenblieben, saß er an dem Arbeitstisch, der sowohl ihm als auch Derek, seinem Zimmergenossen, zur Verfügung stand. Er benutzte eine Schere und schnitt eine Fotografie aus einer Zeitschrift. So über den Tisch gebeugt, wirkte Thomas eigenartigerweise gleichzeitig ungeschlacht und zerbrechlich, untersetzt und zart. Körperlich kräftig, war er mental und emotional schwach, und diese innere Schwäche schien durch, strafte das äußere Bild der Stärke Lügen.
    Der massige Hals, die kräftige runde Schulterpartie, der breite Rücken, die proportional zu kurzen Arme und stämmigen Beine gaben dem Äußeren von Thomas etwas Gnomenhaftes, doch als er sich ihrer Anwesenheit bewußt wurde und den Kopf drehte, um zu sehen, wer da war, zeigte sein Gesicht so gar nichts von den süßen und trügerischen Zügen eines Wesens aus der Märchenwelt - es war im Gegenteil ein Gesicht, geprägt von grausamer genetischer Bestimmung und einer biologischen Tragödie.
    »Jules« sagte er und ließ Schere und Zeitschrift fallen. In seinem Eifer aufzustehen, wäre er fast über den Stuhl gestolpert. Er trug weite, schlabbernde Jeans und ein grünkariertes Flanellhemd. Er wirkte zehn Jahre jünger, als er in Wirklichkeit war. »Jules, Jules!«
    Julie ließ Bobbys Hand los, ging ins Zimmer und breitete die Arme ganz weit aus für ihren Bruder. »Hi, Süßer!«
    Thomas hastete in dem für ihn typischen schleppenden Gang auf sie zu. Es sah so aus, als seien seine Schuhe mit Eisen besohlt, um zu verhindern, daß er die Füße heben konnte. Obwohl er schon zwanzig war, zehn Jahre jünger als Julie, war er zehn Zentimeter kleiner als sie, kaum 1,50 Meter groß.
    Er litt unter dem Down Syndrom, eine Diagnose, die selbst ein Laie in seinem Gesicht lesen konnte: Seine niedrige Stirn trat wulstig vor, die schräge Stellung gab seinen Augen ein orientalisches Aussehen, die breite Nasenwurzel war flach, und die kleinen, mangelhaft modellierten Ohren saßen tief an einem Kopf, der im Vergleich zu seinem Körper zu klein war.
    Sonst hatten seine Züge die weichen Konturen, die man meist mit geistiger Zurückgebliebenheit verbindet. Der Tatsache zum Trotz, daß seine Miene eher für den Ausdruck von Traurigkeit und Einsamkeit geschaffen war, zeigten seine üblicherweise deprimierten Züge nun ein wunderbar warmes Lächeln, ein Grinsen reinster Freude.
    Julie hatte immer schon diese Wirkung auf Thomas gehabt. Verdammt, diese Wirkung hat sie auf mich, dachte Bobby. Julie bückte sich nur wenig, als sie ihren Bruder in die  Arme nahm, nachdem er sie endlich erreicht hatte. Und so blieben sie eine ganze Weite stehen. »Wie geht es dir?« fragte sie. »Gut«, erwiderte Thomas, »mir geht's gut.« Seine Stimme klang dumpf, doch es war nicht schwer, ihn zu verstehen, weil seine Zunge nicht so stark deformiert war wie die vieler DS-Opfer. Sie war ein wenig größer, als sie hätte sein sollen, war aber weder grob und gefurcht noch wesentlich zu lang.
    »Mir geht es richtig gut.«
»Wo ist Derek?«
»Macht einen Besuch. Unten am Hur. Er wird  zurückkommen. Mir geht es richtig gut. Geht's dir gut?« »Mir geht's prima, Schatz. Einfach großartig.« »Mir geht's auch einfach großartig. Ich liebe dich, Jules«, sagte Thomas ganz glücklich, denn bei Julie verlor er die Schüchternheit, die seine Beziehungen zu jedermann sonst trübte. »Ich liebe dich so sehr.«
    »Ich liebe dich auch, Thomas.«
»Ich hatte Angst -hätte ja sein können, daß du nicht  kommst.« »Ich komme doch immer, oder?« »Immer«, erwiderte er. Jetzt endlich lockerte er die Umarmung

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