Ort des Grauens
Schilderungen, aber es waren auch nicht nur willkürliche Zusammenstellungen von Ausschnitten. Eine Kirchturmspitze, eine Maus, eine schöne Frau in einem smaragdgrünen Ballkleid, eine Wiese voller Gänseblümchen, eine Dose Dole-Ananasringe, ein Halbmond, ein Stapel Pfannkuchen, von denen der Sirup tropfte, glitzernde Rubine auf einem Ausstellungstuch aus schwarzem Samt, ein Fisch mit weit offenem Maul, ein lachendes Kind, eine betende Nonne, eine Frau, die in irgendeinem gottverlassenen Kriegsgebiet die von Kugeln durchsiebte Leiche eines geliebten Menschen beweint, eine Packung Kaugummi, ein Welpe mit Schlappohren, schwarzgekleidete Nonnen mit schneeweißen gestärkten Hauben aus diesen und Tausenden von anderen Bildern, die er in seinen wie Schatzkästchen gehüteten Kartons aufbewahrte, suchte Thomas die Elemente seiner Kompositionen heraus.
Bobby war bei vielen dieser Gedichte von Anfang an eine fast unheimliche Treffsicherheit aufgefallen, eine Symmetrie, die zu fundamental war, als daß er sie hätte beschreiben können, Nebeneinanderstellungen, die sowohl naiv und profund waren, Rhythmen, die so real wie nicht faßbar waren, eine persönliche Vision, die man klar erkannte, die aber zu geheimnisvoll und mysteriös war, als daß man auch nur einen Bruchteil ihrer Bedeutung hätte verstehen können. Im Lauf der Jahre hatte Bobby bemerkt, wie die Gedichte besser, befriedigender wurden, obwohl er sie so wenig verstand, daß er nicht hätte erklären können, worin die Verbesserung lag. Er wußte nur, daß sie da war.
Julie schaute von der Doppelseite in dem Album auf. »Das ist wundervoll, Thomas«, lobte sie. »Es vermittelt mir das Gefühl ... Ich würde am liebsten nach draußen rennen, ins Gras ... und einfach unter dem Himmelszelt dastehen und möglicherweise sogar tanzen, einfach den Kopf in den Nacken werfen und lachen. Es gibt mir ein Glücksgefühl – ich freue mich, am Leben zu sein.«
»Ja!« sagte Thomas. Er sprach undeutlich und klatschte in die Hände.
Sie gab das Buch an Bobby weiter, und er setzte sich auf die Bettkante, um es zu lesen.
Das aufregendste an Thomas' Gedichten war die emotionale Reaktion, die sie unweigerlich hatten. Keines ließ den Leser unberührt, wie es eine Phalanx willkürlich zusammengestellter Bilder möglicherweise getan hätte.
Bobby mußte manchmal laut heraus lachen, wenn er sich Thomas' Arbeiten ansah. Und manchmal war er so bewegt, daß er die Tränen zurückhalten mußte, und manchmal spürte er Furcht oder Traurigkeit, Bedauern oder Bewunderung. Ihm war nicht einmal klar, warum er auf irgendeine besondere Zusammenstellung so reagierte, wie er es tat. Die Wirkung entzog sich immer jeder Analyse. Thomas' Kompositionen wirkten auf irgendeiner Urebene, riefen Reaktionen aus einem Bereich der Seele hervor, der weit tiefer lag als das Unbewußte.
Das letzte Gedicht war keine Ausnahme. Bobby fühlte, was Julie gefühlt hatte, daß das Leben schön war, daß die Welt gut war, er spürte nur aufgrund seiner bloßen Existenz eine Hochstimmung.
Er blickte von dem Album auf und sah, daß Thomas so begierig auf seine Reaktion wartete, wie er auf Julies gewartet hatte. Vielleicht war das ja ein Anzeichen dafür, daß seine Meinung ihm so wichtig war wie die seiner Schwester, obwohl er nach wie vor keine so lange und innige Umarmung wert war wie Julie.
»Mann«, sagte er leise. »Thomas, das vermittelt mir ein so warmes, ein so krabbelndes Gefühl, daß ... Ich bin ganz hin.«
Thomas grinste.
Manchmal schaute Thomas seinen Schwager an, und Bobby war überzeugt, es gebe zwei Thomase, die sich diese bedauerlicherweise deformierte Hirnschale teilten. Der Thomas Nummer eins war der Schwachsinnige, nett, aber geistesschwach. Thomas Nummer zwei war dagegen genauso klug wie jedermann, allerdings gehörte ihm nur ein kleiner Teil des geschädigten Gehirns, das er sich mit Thomas Nummer eins teilte, eine Partie im Zentrum, von dem aus er nicht auf direktem Wege mit der Außenwelt kommunizieren konnte. Jeder der Gedanken von Thomas Nummer zwei mußte deshalb durch den Teil des Gehirns gefiltert werden, der Thomas Nummer eins gehörte, sodaß er sich schließlich in nichts von denen von Thomas Nummer eins unterschied. Deshalb würde die Welt niemals erfahren, daß Thomas Nummer zwei überhaupt da war, daß er dachte und fühlte und ganz lebendig war -abgesehen von dem Beweis, den seine Bildergedichte lieferten, deren Essenz sogar noch erkennbar war, wenn sie durch Thomas Nummer
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