Ort des Grauens
schlafen. Nicht angezogen zu sein, brachte Candy in Verlegenheit, sogar dann, wenn niemand da war, der ihn hätte sehen können.
Den ganzen Donnerstagnachmittag lang erfüllte die harte Wintersonne die Welt da draußen, doch durch die Rouleaus mit dem Blumenmuster, die die beiden Fenster verdeckten, drangen nur ein paar Strahlen. Bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen er aufgewacht war, hatte Candy nur den perlgrauen Schimmer des Toilettenspiegels und das Glitzern der silbergerahmten Fotografien auf dem Nachttisch wahrgenommen. Schlaftrunken und benebelt vom eben erst aufgetragenen Parfüm, konnte er sich leicht vorstellen, daß seine geliebte Mutter in ihrem Schaukelstuhl saß und über ihn wachte, und er fühlte sich sicher.
Kurz vor Sonnenuntergang wurde er richtig wach, blieb mit im Nacken verschränkten Händen noch eine Weile liegen und starrte zu dem Baldachin des Himmellbetts hinauf. Er konnte ihn zwar nicht sehen, wußte aber, daß er da war, und es gelang ihm, vor seinem geistigen Auge ein deutliches Bild des Rosenknospenmusters des Stoffs heraufzubeschwören. Eine Weile dachte er an seine Mutter, an die beste Zeit seines Lebens, an alles, was nun längst vorbei war, und dann dachte er an das Mädchen, den Jungen und die Frau, die er in der vergangenen Nacht getötet hatte. Er versuchte, sich den Geschmack ihres Blutes ins Gedächtnis zu rufen, doch diese Erinnerung war nicht so intensiv wie die an seine Mutter.
Nach einiger Zeit knipste er die Nachttischlampe an und schaute sich in dem Raum um, der ihm so wunderbar vertraut war: Rosenknospen-Tapete; Rosenknospen-Tagesdek-ke; Rosenknospen-Rouleaus; rosenfarbene Vorhänge und Teppiche; Bett, Toilettentisch und Kommode mit Aufsatz in dunklem Mahagoni. Zwei kleine Afghan-Teppiche – einer grün wie Rosenblätter, der andere im Ton der Blütenblätter lagen auf den Armlehnen des Schaukelstuhls.
Er ging ins anschließende Bad, verschloß die Tür und probierte noch einmal, ob sie auch wirklich zu war. Das einzige Licht hier kam von den phosphoreszierenden Paneelen in der Laibung über dem Waschbecken, denn das schmale Fenster, oben in der Wand, hatte er schon vor langer Zeit schwarz angemalt.
Einen Moment lang schaute er sich sein Gesicht genau im Spiegel an, denn er mochte, wie er aussah. In seinem Gesicht konnte er seine Mutter sehen. Er hatte ihr blondes Haar, so hell, daß es fast weiß war, und er hatte ihre meerblauen Augen. In seinem Gesicht gab es nur gerade Flächen und strenge Linien. Da war nichts von ihrer Schönheit und Freundlichkeit, obwohl seine Lippen so voll waren, wie ihre es gewesen waren.
Während er sich auszog, vermied er es, an sich hinunterzuschauen. Auf seine kräftigen Schultern und Arme war er stolz, auch auf seinen breiten Brustkorb und die muskolösen Beine, doch selbst ein kurzer Blick auf dieses Sexding vermittelte ihm das Gefühl, schmutzig zu sein, und erregte inihm leichte Übelkeit. Zum Wasserlassen setzte er sich immer auf die Toilette, damit er sich »dort« nicht berühren mußte. Und wenn er duschte, zog er einen Handschuh über, den er sich aus zwei Waschlappen selbst genäht hatte, bevor er seinen Schritt einseifte, damit das Fleisch seiner Hände nicht mit dem verderbten Fleisch da unten in Berührung geriet.
Nachdem er sich abgetrocknet und angezogen hatte Sportsocken, Laufschuhe, dunkelgraue Cordhose, schwarzes Hemd -verließ er widerstrebend den einzigen wahren Zufluchtsort, den er kannte: das Zimmer, das seine Mutter früher bewohnt hatte. Die Nacht war angebrochen, und der obere Flur wurde nur notdürftig erhellt von zwei schwachen Glühbirnen in einer Deckenlampe, die von grauem Staub bedeckt war und der bereits die Hälfte ihrer Kristallanhänger fehlten. Zu seiner Linken war der Treppenabsatz, zu seiner Rechten lagen die Zimmer seiner Schwestern, sein altes Zimmer und das zweite Bad, deren Türen allesamt offenstanden; nirgends war Licht zu sehen. Die Eichendielen knarrten, und der fadenscheinige Läufer vermochte nicht, seine Schritte zu dämpfen.
Manchmal war er der Meinung, er sollte den Rest des Hauses gründlich reinigen, vielleicht sogar etwas Geld für neue Teppiche und frische Farbe springen lassen. Obwohl er das Zimmer seiner Mutter rein und makellos sauber hielt, war er jedoch nicht motiviert, Zeit und Geld auf den Rest des Hauses zu verschwenden, und seine Schwestern hatten kaum Interesse an der - oder Talent für die - Haushaltsführung. Ein Hagel sanfter Tritte wies ihn darauf hin, daß
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