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Oryx und Crake

Oryx und Crake

Titel: Oryx und Crake Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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sein heimliches härenes Hemd.
    Nach kurzem Zögern hocken sich die Kinder im Halbkreis nieder, Jungen und Mädchen gemeinsam. Ein paar von den Jüngeren kauen noch an ihrem Frühstück, der grüne Saft rinnt ihnen über das Kinn.
    Entmutigend, wie schnell man verkommt, ohne Spiegel. Trotzdem sind sie immer noch erstaunlich anziehend, diese Kinder: jedes nackt, jedes perfekt, jedes von anderer Hautfarbe – schokoladebraun, rosig, teefarben, butter-, krem-, honiggelb –, aber alle mit grünen Augen.
    Crakes Ästhetik.
    Erwartungsvoll sehen sie Schneemensch an. Anscheinend hoffen sie, dass er mit ihnen spricht, aber er ist heute nicht in Stimmung. Allenfalls wird er sie seine Sonnenbrille aus der Nähe sehen lassen oder seine glänzende, stehen gebliebene Uhr, oder seine Baseballmütze. Die Mütze gefällt ihnen, aber sie verstehen nicht, wozu er so etwas braucht –
    abnehmbare Haare, die aber keine Haare sind –, und er hat noch keine Geschichte dazu erfunden.
    Eine Zeit lang sind sie still, starren, denken nach; dann fängt der Älteste an. »O Schneemensch, bitte erzähl – was ist das für ein Moos, das aus deinem Gesicht herauswächst?« Die anderen fallen ein. »Bitte erzähl, bitte erzähl!« Kein Quengeln, kein Kichern: Die Frage ist ernst.
    »Federn«, sagt er.
    Sie stellen diese Frage mindestens einmal in der Woche. Er gibt immer dieselbe Antwort. Schon in einem so kurzen Zeitraum – zwei Monate?
    drei? Er hat den Überblick verloren – haben sie sich einen Vorrat an Mythen, an Mutmaßungen über ihn zugelegt: Schneemensch war einmal ein Vogel, aber er hat das Fliegen verlernt, und die meisten Federn sind ihm ausgefallen, deshalb friert er und braucht eine zweite Haut, er muss sich einwickeln. Nein: Er friert, weil er Fische isst, und Fische sind kalt.
    Nein: Er wickelt sich ein, weil ihm sein männliches Ding fehlt, und er will nicht, dass wir das sehen. Deswegen geht er auch nicht schwimmen.
    Schneemensch hat Falten, weil er früher unter Wasser gelebt hat, und davon ist seine Haut runzelig geworden. Schneemensch ist traurig, weil die anderen, die so waren wie er, über das Meer davongeflogen sind, und jetzt ist er ganz allein.
    »Ich möchte auch Federn«, sagt der Jüngste. Eine vergebliche Hoffnung: Unter Crakes Kindern gibt es keine männlichen Bärte. Crake fand Bärte irrational; außerdem ärgerte ihn das ständige Rasieren, und deshalb schaffte er die Notwendigkeit kurzerhand ab. Natürlich nicht für Schneemensch: Für ihn war es zu spät.
    Jetzt fangen sie alle auf einmal an. »O Schneemensch, o Schneemensch, können wir auch Federn haben? Bitte?«

    »Nein«, sagt er.
    »Warum nicht, warum nicht?«, singen die beiden Kleinsten.
    »Wartet einen Moment, ich werde Crake fragen.« Er hält seine Uhr zum Himmel hinauf, dreht sie rund um das Handgelenk, dann legt er sie ans Ohr, als lauschte er. Sie beobachten gebannt jede Bewegung.
    »Nein«, sagt er. »Crake meint, nein. Keine Federn für euch. Jetzt verpisst euch.«
    »Verpisst euch? Verpisst euch?« Sie sehen einander an, dann ihn. Er hat einen Fehler gemacht, er hat etwas Neues gesagt, hat einen Begriff verwendet, der unmöglich zu erklären ist. »Pissen« ist für sie nichts Anstößiges. »Was heißt verpissen!«
    »Geht weg!« Er wedelt mit einem Zipfel des Lakens in ihre Richtung, und sie stieben davon, rennen den Strand entlang. Sie sind immer noch unschlüssig, ob sie sich vor ihm fürchten sollen, und wie sehr. Soweit man weiß, hat er noch keinem Kind etwas zu Leide getan, aber sein Wesen ist nicht ganz zu begreifen. Unmöglich, sein Verhalten vorherzusagen.

Stimme
    »Jetzt bin ich allein«, sagt er laut. »Ganz, ganz allein. Allein auf dem endlos weiten Meer.« Noch ein Fetzen aus dem brennenden Notizbuch in seinem Kopf.
    Korrektur: an der Meeresküste.
    Er empfindet das Bedürfnis nach einer menschlichen Stimme – einer wirklich menschlichen Stimme, wie seine eigene. Manchmal lacht er wie eine Hyäne oder brüllt wie ein Löwe – wie seine Vorstellung von einer Hyäne, seine Vorstellung von einem Löwen.
    Als Kind hat er alte DVDs von solchen Wesen gesehen: diese Tierverhaltensfilme, die Kopulation und Geknurre und Eingeweide vorführten und Mütter, die ihre Jungen leckten. Warum hatte er sie so tröstlich gefunden?
    Oder er grunzt und quietscht wie ein Organschwein oder heult wie ein Hunolf: Aruuuh! Aruuuh! In der Abenddämmerung springt er manchmal auf und rennt im Sand hin und her, schleudert Steine ins Meer und brüllt:

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