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Oryx und Crake

Oryx und Crake

Titel: Oryx und Crake Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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Satellit kommunizierte. Jimmy beobachtete fasziniert, wie die Lichtpunkte einer nach dem anderen erloschen.

    Er stand unter Schock. Das muss der Grund gewesen sein, warum er es nicht begreifen konnte. Das Ganze kam ihm wie ein Spielfilm vor. Aber hier saß er, und da lagen Oryx und Crake tot in der Luftschleuse. Immer wenn er sich bei dem Gedanken erwischte, es wäre alles Einbildung, eine Art dummer Scherz, ging er hin und sah sie sich an. Natürlich durch das kugelsichere Fenster. Er wusste, dass er die innere Tür nicht öffnen durfte.
    Er ernährte sich von Crakes Notvorräten, zuerst von der Tiefkühlkost: Falls das Solarsystem der Kuppel ausfiel, würden die Gefrierschränke und Mikrowellen nicht mehr funktionieren, also konnte er genauso gut die ChickieNobs aufessen, solange er die Gelegenheit hatte. Er rauchte Crakes Vorrat an Marihuana in kürzester Zeit; auf die Weise gelang es ihm, drei Schreckenstage zu verpassen. Anfangs rationierte er den Alkohol, aber bald ging eine ganz schöne Menge davon weg. Er musste zugedröhnt sein, um sich den Nachrichten stellen zu können, er musste sich so weit bringen, dass er nicht viel empfand.
    »Ich glaub es nicht, ich glaub es nicht«, sagte er immer wieder. Er hatte begonnen, laut mit sich selbst zu sprechen, kein gutes Zeichen.
    »Das ist alles nicht passiert.« Wie konnte er in diesem sauberen, trockenen, eintönigen, gewöhnlichen Raum leben, Karamell-Sojapopcorn und Zucchinikäseröllchen essen und sein Hirn mit Spirituosen zuknallen und über dem Fiasko seines Privatlebens brüten, während die gesamte Menschheit abkratzte?
    Das Schlimmste daran war, dass die Leute da draußen – die Angst, das Leid, der Tod en gros – ihn nicht wirklich berührten. Crake hatte immer gesagt, das Hirn des Homo sapiens sapiens sei nicht dafür ausgelegt, mehr als zweihundert Menschen – die Größe des Urstammes – als Individuen zu betrachten, und Jimmy hatte diese Zahl auf zwei reduziert. Hatte Oryx ihn geliebt, hatte sie ihn nicht geliebt, wusste Crake über sie Bescheid, wie viel wusste er, wann hatte er es herausgefunden, spionierte er ihnen schon die ganze Zeit nach? Hatte er das große Finale nur als Selbstmord mit Beihilfe inszeniert, hatte er gewollt, dass Jimmy ihn erschießt, weil er wusste, was als Nächstes passieren würde, und sich entschieden hatte, nicht länger dazubleiben?
    Wollte er die Folgen dessen, was er getan hatte, nicht mit ansehen?
    Oder wusste er, dass er nicht fähig sein würde, die Impfstoff-Formel zurückzuhalten, wenn ihn erst mal das CorpSeCorps in die Mangel nahm? Wie lange hatte er das geplant? Konnte es sein, dass Onkel Pete und möglicherweise selbst Crakes eigene Mutter Probeläufe gewesen waren? Wo so viel auf dem Spiel stand, hatte er einen Fehlschlag befürchtet oder die Möglichkeit, nur ein weiterer inkompetenter Nihilist zu sein? Oder wurde er von Eifersucht gequält, war er vergiftet von Liebe, war es Rache, wollte er nur, dass Jimmy ihn von seinem Leiden erlöste? War er ein Wahnsinniger gewesen oder ein intellektuell redlicher Mensch, der die Dinge durchdacht hatte bis zu ihrer logischen Schlussfolgerung? Und gab es einen Unterschied zwischen den beiden?
    Und so weiter und so fort, er drehte am Rad der Gefühle und zog sich den Sprit rein, bis er wieder Mattscheibe erreichte.

    Inzwischen rollte vor seinen Augen das Ende einer Spezies ab. Reich, Stamm, Abteilung, Ordnung, Familie, Gattung, Spezies. Wie viele Beine hat es? Homo sapiens sapiens, nun schließt er sich dem Eisbären an, dem Weißwal, dem Onager, der Höhleneule, der langen, langen Liste. Ah, hohe Punktzahl, Großmeister.
    Manchmal drehte er den Ton ab, flüsterte sich selbst Worte zu.
    Sukkulenz, Morphologie, Verblendung, Quarto, Fraßmehl. Es hatte eine beruhigende Wirkung.

    Eine Website nach der anderen, ein Sender nach dem anderen fielen aus.
    Ein paar Sprecher, nachrichtenbesessen bis zum Ende, stellten die Kameras so ein, dass ihr eigener Tod gefilmt wurde – die Schreie, die sich auflösende Haut, die blutenden Augäpfel und der ganze Rest. Wie theatralisch, dachte Jimmy. Es gibt nichts, was manche Leute nicht machen würden, um ins Fernsehen zu kommen.
    »Du Scheißzyniker«, sagte er zu sich selbst. Dann fing er an zu weinen.
    »Sei nicht so verdammt sentimental«, hatte ihm Crake immer gesagt.
    Aber warum nicht? Warum sollte er nicht sentimental sein? Schließlich war niemand da, der seinen Geschmack in Frage stellen könnte.
    Von Zeit zu Zeit erwog er,

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