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Oryx und Crake

Oryx und Crake

Titel: Oryx und Crake Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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ihn, wittert seine chemische Aura. »Wir sind nicht hier, um zu spielen, zu träumen und uns treiben zu lassen«, sagt er zu ihr. »Wir haben harte Arbeit zu verrichten und Bürden zu tragen.«
    Aus welcher schrumpfenden neuralen Zisterne in seinem Hirn stammt jetzt das wieder? Aus dem Fach Lebenshilfe, in der Unterstufe. Der Lehrer war ein watschelndes neokonservatives Überbleibsel aus den berauschenden Tagen der legendären dot.com-Blase, in prähistorischen Zeiten. Von seinem schütteren Hinterkopf hing ein strähniger Pferdeschwanz auf seine Kunstlederjacke herab, in seiner knolligen, großporigen alten Nase hatte er ein Goldpiercing, und er predigte Selbstvertrauen und Individualismus und Risikobereitschaft, in einem hoffnungslosen Ton, als glaubte er selbst nicht mehr daran. Ab und zu rückte er mit einer altehrwürdigen Maxime heraus und servierte sie mit einer bitteren Ironie, die aber auch nichts dazu beitrug, den Langeweilequotienten zu verringern; oder er sagte: »Ich hätte ja auch mitmachen können«, und ließ dann den Blick bedeutungsvoll und wild über die Klasse schweifen, als läge eine abgrundtiefe Wahrheit in seinem Ausspruch, die sie alle erfassen müssten.
    Doppelte Buchführung am Bildschirm, Banking mit der Fingerspitze, Umgang mit Mikrowellen, ohne sich die Birne zu braten, das Ausfüllen von Wohnungsanträgen für dieses oder jenes Modul und von Arbeitsanträgen für diesen oder jenen Komplex, Familiengenomforschung, Verhandlung über Ehe-und-Scheidungs-Verträge, genetisch verantwortungsvolle Partnerwahl, sachgemäßer Kondomgebrauch zum Schutz vor sexuell übertragbaren Bioformen: Das waren die Lerninhalte im Fach Lebenshilfe. Kein Schüler hatte ihm viel Aufmerksamkeit geschenkt. Entweder sie wussten schon alles, oder sie wollten es nicht wissen. Für sie war seine Stunde eine Erholungspause. Wir sind nicht hier, um zu spielen, zu träumen und uns treiben zu lassen. Wir sind hier, um Lebenstechniken einzuüben.
    »Was immer«, sagt Schneemensch.

    Statt Schach oder Tagebuch könnte er sich auch seinen Lebensumständen zuwenden. Da ließe sich einiges verbessern, einiges!
    Erst einmal müsste er weitere Nahrungsquellen auftun. Warum hat er nie etwas über Wurzeln und Beeren gelernt, über Fallen aus spitzen Stöcken, die Kleinwild aufspießen, warum weiß er nicht, wie man Schlangen isst? Warum hat er seine Zeit vergeudet?
    Ach Schatz, hör doch auf mit dieser Selbstzerfleischung!, haucht ihm eine weibliche Stimme mitfühlend ins Ohr.
    Wenn er nur eine Höhle fände, eine schöne Höhle, hoch und gut belüftet, vielleicht auch mit fließendem Wasser, wäre schon viel gewonnen. Sicher, es gibt einen Bach mit frischem Wasser nicht weit entfernt; an einer Stelle weitet er sich zu einem Tümpel. Anfangs war er oft dort, um sich abzukühlen, aber es könnte sein, dass die Craker dort herumplanschen oder am Bachufer liegen, dass die Kinder ihn bedrängen, schwimmen zu gehen, und er will sich ihnen nicht ohne sein Tuch zeigen. Verglichen mit ihnen ist er einfach zu merkwürdig; neben ihnen käme er sich geradezu missgebildet vor. Und wenn keine Menschen, könnten sich natürlich Tiere dort herumtreiben: Hunölfe, Organschweine, Luxkatzen. Wasserlöcher ziehen Fleischfresser an. Sie liegen auf der Lauer. Sie geifern. Sie stürzen sich auf einen. Nicht sehr gemütlich.
    Die Wolken ziehen sich zusammen, der Himmel wird schwarz. Er sieht nicht viel durch die Bäume, aber er merkt, wie das Licht sich verändert. Er gleitet in einen Halbschlaf und träumt von Oryx, die sich auf dem Rücken in einem Swimming-Pool treiben lässt. Sie trägt ein Gewand, das aussieht, als bestünde es aus zarten weißen Seidenpapierblättern. Sie breiten sich rings um sie aus, dehnen sich und ziehen sich zusammen wie die Glocke einer Qualle. Der Pool ist leuchtend rosa gestrichen. Sie lächelt zu ihm herauf und bewegt sacht die Arme, um sich an der Oberfläche zu halten, und er weiß, dass sie beide in großer Gefahr sind. Dann ertönt ein dumpfer Knall, als fiele die Tür eines riesigen Kellergewölbes ins Schloss.

Wolkenbruch
    Vom Donnergrollen und einem plötzlichen Wind wacht er auf: Das nachmittägliche Unwetter rückt an. Er rappelt sich auf, packt sein Laken. Diese Gewitter können sehr schnell über ihm sein, und dann ist ein metallenes Bettgestell nicht der richtige Aufenthaltsort. Tiefer im Wald hat er sich eine Insel aus Autoreifen gebaut; der Trick besteht einfach darin, sich so lange darauf zu setzen – die

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