Oryx und Crake
Reifen als Isolationsschicht zwischen ihm und dem Boden –, bis das Gewitter vorbei ist. Manchmal hagelt es, golfballgroße Eisklumpen, aber die Baumkronen bremsen ihren Fall.
Er erreicht den Reifenstapel im selben Moment, in dem das Unwetter losbricht. Heute ist es nur Regen, der übliche Wolkenbruch, so heftig, dass der Aufprall der Tropfen auf dem Boden die Luft in Nebel verwandelt. Wasser schwemmt auf ihn herab, und die Blitze schießen zischend herunter. Über ihm peitschen Äste hin und her, auf dem Boden bilden sich Bäche. Es kühlt rasch ab; der Geruch von frisch gewaschenen Blättern und nasser Erde erfüllt die Luft.
Als es nur noch tröpfelt und das Donnergrollen in weite Ferne gerückt ist, stapft er zurück zu seinem Versteck aus Betonplatten, um die leeren Bierflaschen zu holen. Dann sucht er sich den Weg zu einer gebrochenen, in die Luft ragenden Rampe aus Zement, die einst Teil einer Brücke war. Darunter befindet sich ein dreieckiges orangegelbes Schild mit dem schwarzen Umriss eines schaufelnden Mannes.
Baustelle hieß das einmal. Seltsame Vorstellung: die unaufhörliche Arbeit, das Graben, das Hämmern, das Ausheben, das Hieven und Bohren, Tag für Tag, Jahr um Jahr, ein Jahrhundert nach dem anderen; und jetzt dieser unaufhaltsame Zerfall, der überall stattfindet.
Sandburgen im Wind.
Durch ein Loch in der Betonwand schießt ein Wasserstrahl. Er steht darunter mit offenem Mund und trinkt gierig Wasser mit Kies und Zweigen und anderem, an das er nicht denken will, denn sicher hat sich das Wasser seinen Weg durch verlassene Häuser und stinkende Keller und verstopfte Abzugsgräben und wer weiß was noch alles gebahnt.
Dann spült er sich ab, wringt sein Laken aus. Sehr sauber wird er davon nicht, aber wenigstens löst sich die oberste Schicht Grind und Schmutz.
Hilfreich wäre ein Stück Seife: Er vergisst immer wieder, auf seinen Beutezügen eines mitzunehmen.
Zuletzt füllt er seine Bierflaschen. Er sollte sich ein besseres Gefäß besorgen, eine Thermoskanne oder einen Eimer – irgendetwas mit größerem Fassungsvermögen. Außerdem sind Flaschen unpraktisch: Sie sind glitschig und kippen leicht um. Immer wieder bildet er sich ein, er könne noch Bier darin riechen, aber das ist nur Wunschdenken. Tun wir so, als ob das Bier wäre.
Das hätte er nicht aufs Tapet bringen sollen. Es ist falsch, sich zu quälen. Unerreichbare Verlockungen vor seinen Augen hin und her baumeln zu lassen, als wäre er ein gefangenes, verkabeltes Labortier, das nicht anders kann, als sinnlose und perverse Experimente mit seinem eigenen Gehirn anzustellen.
Lasst mich raus!, hört er sich denken. Aber er ist ja nicht eingesperrt, er sitzt nicht im Gefängnis. Wo wäre er noch mehr draußen, als er ohnehin ist?
»Ich hab’s nicht mit Absicht gemacht«, sagt er in dem weinerlichen kindlichen Ton, in den er in dieser Stimmung oft verfällt. »Es ist passiert, ich hatte ja keine Ahnung, ich konnte nichts machen! Was hätte ich denn tun sollen? Kann mir vielleicht jemand zuhören, irgendwer, bitte?«
Was für eine miserable Vorstellung. Sie überzeugt nicht einmal ihn selbst. Aber jetzt weint er schon wieder.
Es ist wichtig, sagt das Buch in seinem Kopf, geringfügige Ärgernisse zu ignorieren, zweckloses Hadern zu vermeiden und die geistigen Energien stattdessen auf die unmittelbare Realität und die anstehenden Aufgaben zu richten. Er muss das irgendwo gelesen haben. Seinem eigenen Verstand wäre ein zweckloses Hadern sicher nicht eingefallen, nicht von allein.
Mit einem Zipfel des Lakens wischt er sich das Gesicht ab.
»Zweckloses Hadern«, sagt er laut. Wie so oft hat er das Gefühl, einen Zuhörer zu haben: jemand Unsichtbares, verborgen hinter dem Blättervorhang, der ihn heimlich beobachtet.
Wakunk
Er hat tatsächlich einen Zuhörer: Es ist ein Wakunk, ein junges. Er kann es jetzt sehen, seine hellen Augen, die unter einem Busch hervorspähen.
»Komm her, Mädchen, komm her«, sagt er schmeichelnd. Es weicht ins Unterholz zurück. Wenn er sich darum bemühte, wenn er es wirklich versuchte und nicht locker ließe, könnte er vielleicht eines zähmen, und dann hätte er jemanden, mit dem er reden könnte. Es ist nett, jemanden zu haben, mit dem man reden kann, Oryx hat ihm das oft gesagt. »Du solltest es mal versuchen, Jimmy«, sagte sie und küsste ihn aufs Ohr.
»Aber ich rede doch mit dir«, wandte er dann ein.
Noch ein Kuss. »Wirklich?«
Als Jimmy zehn war, schenkte ihm sein Vater ein Wakunk
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