Osama (German Edition)
seines Nachbarsitzes hoch. Passagiere reichten ihr Flaschen mit Eau d’Evian, mit dem sie Reid übergießen sollte. Dann fesselten sie ihn mit Hilfe von Gürteln, Kopfhörerkabeln und Plastikhandschellen. Als später das FBI versuchte, ihn festzunehmen, mussten sie Reid aus mehreren Schichten von Fesseln herausschneiden.
»Ich glaube, ich brauche mich nicht für meine Handlungen zu entschuldigen«, sagte Richard Reid bei seinem Prozess. »Ich befinde mich im Krieg gegen Ihr Land. Ich befinde mich im Krieg gegen Sie, aber nicht aus persönlichen Gründen … Sprechen Sie also Ihr Urteil, ich überlasse es Ihnen zu richten. Und es ist mir egal. Das ist alles, was ich zu sagen habe.«
»Sie sind kein feindlicher Kämpfer«, sagte Richter William Young. »Sie sind ein Terrorist. Sie sind kein Soldat in irgendeinem Krieg. Sie sind ein Terrorist … Mit Terroristen verhandeln wir nicht. Wir unterzeichnen keine Dokumente mit Terroristen. Wir bringen sie einen nach dem anderen zur Strecke und ziehen sie zur Rechenschaft.
Sie sind ein Terrorist. Ein Krimineller, der des mehrfachen versuchten Mordes schuldig ist.
Haft, Mr. Officer. Bringen Sie ihn weg.«
»Am Tag des Jüngsten Gerichts«, sagte Reid, während er weggetragen wurde, »werdet ihr vor eurem und vor meinem Herrn erscheinen, und dann werden wir es wissen.«
Eine Geräuschleere
Joe legte das Buch hin und trank seinen Whisky. Ein einzelner Eiswürfel klirrte im Glas. Die Sonnenblenden an den Fenstern waren heruntergezogen, die Maschine lag im Dunkeln. Wie der Mann in dem Buch hatte er einen Fensterplatz und niemanden neben sich. Vor und hinter ihm, im ganzen Flugzeug, schliefen die Leute, wie Seidenraupenlarven in ihren weichen Kokons. Er konnte die Geräusche ihres Lebens hören, das leise Schnarchen und wie ihre Körper sich mal in die eine, mal in die andere Richtung drehten, und er wünschte, er könnte auch schlafen. Die Bücher schienen für eine Flugreise nicht sonderlich geeignet zu sein. Sie steckten voller explodierender Flugzeuge, explodierender Gebäude, explodierender Züge, explodierender Menschen. Sie lasen sich wie die Laborberichte eines Leichenschauhauses, gespickt mit Fakten und Zahlen, die alle mit dem Tod zu tun hatten. Er verstand sie nicht. Er dachte über die Worte des Richters in dem Buch nach. Der Richter sagte, es gebe keinen Krieg, oder besser, der Bomber, Reid, sei kein Soldat: Er sei ein Krimineller. Joe hatte jedoch den Eindruck, dass, obwohl er es nicht verstand, in dem Buch tatsächlich ein Krieg geführt wurde. Er wusste nicht, wieso oder worum es dabei ging, es war ein ideologischer Krieg, von dem er keine Vorstellung hatte, aber ihn nicht zu verstehen bedeutete nicht, dass es ihn nicht gab. Womöglich verstand der Richter, wie er selbst, ihn nicht, konnte ihn nicht verstehen und akzeptierte ihn deshalb nicht als solchen. Allerdings bedurfte es, um einen Krieg zu erklären, nur einer Seite.
Joe seufzte und zündete sich, da er einen Platz im hinteren Teil der Maschine gebucht hatte, eine Zigarette an, und als die Asche länger wurde, klopfte er sie über dem kleinen Metallaschenbecher in der Armlehne ab. Gerne hätte er zum Fenster hinaus geschaut. Im Flugzeug war es dunkel und still. Er hatte Kopfhörer, aber dadurch kam nur Musikberieselung. Morgen würde er in Paris sein. Auf diesem Flug reiste er rückwärts in der Zeit, je weiter sie flogen, desto mehr Stunden; es war, als streifte man alte Haut ab, um am Ausgangspunkt wieder ganz neu aufzutauchen. Heute würde er in Paris sein. Gestern, jetzt.
An Bord des Flugzeugs gab es keine Zeit. Hier existierte er in einer Blase aus geschundener Zeit, Zeit, die angehalten, konserviert worden war, denn in dem sich selbst umschließenden Metall galt, solange es in der Luft war, die Zeit des Einstiegs. Er schüttelte den Kopf. Das war jetzt doch zu fantastisch. Es lag nur an der Überquerung der Zeitzonen. Morgen würde er seine Armbanduhr stellen, und es würde keine Rolle spielen, wie viel Uhr es auf der anderen Seite der Welt war. Nur selten spielte es eine Rolle, was auf der anderen Seite der Welt passierte.
Er drückte seine Zigarette aus, und sein Mund schmeckte nach Asche. Er trank seinen Whisky, wirbelte ihn mit der Zunge im Mund herum, fuhr sich mit der Zunge an die Zähne, schluckte, sein Magen fühlte sich hohl an. Er drückte auf den Knopf, der das Licht ausschaltete, und lehnte sich zurück, so dass sein Kopf an der Rückenlehne ruhte. Um ihn herum summte das Flugzeug,
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