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Osama (German Edition)

Osama (German Edition)

Titel: Osama (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lavie Tidhar
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wandte den Blick von ihm ab. Der Mann hinterm Tresen kam mit ihren Drinks, doch die Frau schob ihr Glas weg. »Ich glaube, ich bin stramm genug«, sagte sie zu niemand Bestimmtem. Joe betrachtete ihre Figur und musste ihr recht geben. Dennoch wartete er.
    Vielleicht war es sein Schweigen, das sie innehalten und sich schließlich wieder zu ihm umdrehen ließ. Sie war bereits im Begriff, von dem Barhocker zu steigen. »Bist du einer von denen?«, sagte sie. Er wusste zwar nicht, was sie meinte, sagte aber: »Nein.« Die Frau drückte ihre Zigarette fest in dem Aschenbecher aus. »Sie wollen ihn auch finden«, sagte sie. »Sie sollten Papa D. in Ruhe lassen.«
    »Wer ist Papa D.?«
    Die Frau schüttelte den Kopf. »Ich geh jetzt lieber«, sagte sie mit einem Lächeln. Sie stand mit dem Profil zu ihm, hatte ihn schon verabschiedet. »Warte«, sagte Joe. »Bitte. Ich muss es wissen.«
    »Warum?«, sagte die Frau. Und wandte sich ihm ganz zu. »Warum?«, wiederholte sie und blickte ihm in die Augen, als suchte sie dort etwas, was sie jedoch nicht fand. Sie zuckte die Schultern, eine müde, erschöpfte Geste, und schüttelte den Kopf, dann war sie weg, und die Eingangstür des Bistros schloss sich leise hinter ihr.

Hohle Zellen in einem Honigbienenstock
    Algier, die Weiße Stadt, Alger la Blanche, erhebt sich aus dem Mittelmeer wie eine Luftspiegelung. Wie Walknochen liegen ihre weißen Häuser gebleicht im Sonnenlicht. Bei einem Spaziergang über die Strandpromenade kann man sowohl auf die Große Moschee als auch auf das Casino stoßen. Albert Camus besuchte hier das Gymnasium und später die Universität. Am elften Dezember explodierten im Abstand von zwanzig Minuten zwei Bomben, eine im Stadtteil Aknoun und eine im Viertel Hydra.
    Beide waren Autobomben. Beide enthielten achthundert Kilo Sprengstoff. Die zweite Bombe explodierte um 9.52 Uhr auf der Rue Émile Payen, zwischen der Vertretung der Vereinten Nationen und der des UNHCR – des Hohen Flüchtlingskommissariats der UN.
    Das UNHCR befand sich in einem bescheidenen Bau, weiß mit blauen Markisen über den Fenstern zur Straße. Es gab eine Fahne über der Tür, einen kleinen Hof, ein schwarzes Brett draußen. Das Gebäude verfügte über Räume für zwölf Mitarbeiter. Insgesamt hatte die UN hundertsechzehn algerische und achtzehn internationale Angestellte. Die Explosion machte das Gebäude dem Erdboden gleich und zerstörte den gegenüberliegenden UN-Komplex, wo die Wände einstürzten und Menschen unter den Trümmern begraben wurden. Zu den Todesopfern zählten siebzehn UN-Angestellte, darunter Algerier, ein Däne, ein Filipino und ein Senegalese. Ein Polizist, der das Gebäude bewachte, wurde ebenfalls getötet, außerdem ein DHL-Kurier, der sich in dem UN-Gebäude aufhielt. Fünf Menschen, die in der Nähe des Gebäudes wohnten, starben ebenfalls bei der Detonation. Fünfzig UN-Mitarbeiter wurden verletzt, manche schwer. Der Fahrer des Bombenlasters starb als Erster.
    Viele der Überlebenden blieben vor Ort, halfen bei den Aufräumarbeiten, suchten nach Menschen, die unter den Trümmern begraben waren. Dazu gehörte auch eine bei der UN angestellte Reinigungskraft, die hochschwanger war.
    Zweiundzwanzig Minuten früher, um 9.30 Uhr, explodierte in einem anderen Teil der Stadt in der Nähe des Verfassungsgerichtshofs die erste Autobombe. Das im maurischen Stil gehaltene Gebäude war von einem chinesischen Bauunternehmen errichtet worden. Als die Mauern zusammenfielen, wurden die Büros bloßgelegt, die jetzt den hohlen Zellen in einem Honigbienenstock glichen. Ein vorbeifahrender Bus voller Studenten auf dem Weg zu Vorlesungen an der Ben-Aknoun-Universität bekam die ganze Wucht der Explosion ab: Seine Insassen sahen danach aus wie zerquetschte Insektenpuppen.

Eine von uns
    An diesem Abend saß Joe allein in einem abgedunkelten Kinosaal und betrachtete das Licht, das auf der Leinwand flimmerte, während Staubpartikel im Projektorstrahl tanzten. In dem nur spärlich besetzten Kino wurde ein alter Schwarz-Weiß-Film aus den Dreißigern gezeigt. Joe saß hinten, wo er eine ganze Reihe für sich und freie Sicht hatte. Über seinen Kopf wanderte der Lichtstrahl des Projektors in einem stetigen Strom, der sich beim Auftreffen auf die Leinwand in alte Bilder auflöste. Die Geschichte schien von einer Gruppe missgestalteter Zirkusdarsteller zu handeln. Seine Gedanken fühlten sich schmutzig und durchweicht an, wie ein in Wasser ausgedrückter Zigarettenstummel.

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