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Osama (German Edition)

Osama (German Edition)

Titel: Osama (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lavie Tidhar
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irgendwoher«, sagte sie.
    Er wandte sich von ihr ab, den Blick auf die schwankenden, beschwipsten Paare und die einsamen, am Tresen hängenden Trinker gerichtet. Kerzenlicht flackerte in einem unsichtbaren, ungefühlten Luftzug. Jenseits der Fenster gab es nichts. Dann sprach er sehr leise, die Lippen kaum bewegend, zu niemandem als der Leere dieser komprimierten Welt, und es war, als wüsste er nicht einmal, dass er sprach. »Wo kommen wir denn dann her?«, sagte er. Er wandte sich ihr wieder zu, doch sie sah ihn nicht mehr an. Auch sie schaute weg. »Und wohin gehen wir?«
    Sie weinte. Das Gesicht hatte sie von ihm abgewandt; ihr Glas war leer. Sie hatte die Hände zurückgezogen, was sie von ihm abschnitt; jetzt bildeten sie einen Schirm vor ihrem Gesicht, der sie schützte.
    Die beiden sprachen nicht. Als sie die Hände wegnahm, war ihr Makeup verlaufen, doch sie schien es nicht zu bemerken oder zu beachten. »Suchst du deshalb nach ihm?«, fragte sie. »Meinst du, er könnte dich führen? Wohin? Vorwärts oder … oder rückwärts?«
    Er wusste nicht, was sie meinte, und antwortete nicht, bot ihr jedoch eine Zigarette an, die sie entgegennahm, und nachdem er sie ihr angezündet hatte, steckte er sich selbst eine an und bestellte mit einer Handbewegung noch einen Drink, Handlungen, die zwischen ihnen zum Ritual, zu etwas Etabliertem, einem eingespielten Muster reduziert waren. Im Ritual lag Trost. »Ich muss Papadopoulos finden«, sagte er, und dann, den Blick in ihr Gesicht gerichtet: »Papa D.«
    Die Frau, ausdruckslos: »Ich hab ihn nicht gesehen.«
    »Nein«, bestätigte Joe. »Ich auch nicht. Aber du musst doch wissen, wo er sich aufhält? Bist du je bei ihm zu Hause gewesen?«
    Mit einer gewissen Hoffnung sprach er die Worte aus, doch die Frau, die müde wirkte, schüttelte nur den Kopf. Sie sagte: »Ich weiß nicht, wo er wohnt. Wenn er sich ein Mädchen leisten kann, geht er nie weit. Es gibt billige Zimmer. Ich weiß nicht, wo er wohnt.«
    »Würdest du’s mir sagen, wenn du’s wüsstest?«
    Wieder schüttelte die Frau den Kopf. Als sie ihn anblickte, fühlte er sich gefangen: Er konnte sich nicht von der Stelle rühren. Die großen braunen Augen musterten ihn, zogen ihn emotionslos nackt aus, blickten ins Innere, ein Arzt, der nach verräterischen Anzeichen für eine unheilbare Krankheit suchte. »Nein«, sagte sie. »Warum sollte ich? Er hat uns nie etwas zuleide getan. Und er kümmert sich, Joe. Er kümmert sich. Das Leben ist kein Groschenroman, Joe, und der Tod auch nicht.« Damit stand sie auf, warf den Kopf in den Nacken, leerte ihr Glas, das letzte, stellte es wieder auf den Tresen und ging davon, und er sah ihr nach, noch ein eingespieltes Ritual, noch ein Muster, dem sie folgten, auf das sie sich geeinigt hatten, das Trost spendete. Sie brauchten beide Trost, nicht den durch Sex, nicht einmal den durch Alkohol, sondern den durch einen Grund, irgendeinen Grund, und in Ermangelung dessen gab es nur leere Rituale. Hinter ihr schloss sich die Tür, und die Paare tanzten, jeder auf der Suche nach Wärme im Körper des anderen, und die langsame Jazzmusik aus der Konserve spielte weiter, und der Rauch von Joes Zigarette formte Luftschlösser, grau und körperlos, und er dachte: Ich habe ihr doch nie gesagt, wie ich heiße.

In den Monceau hinein
    Am nächsten Morgen bezog er wieder im Postamt Stellung, doch diesmal hielt er nicht nach dem Mann Ausschau. Er beobachtete nur das Postfach. Joe war ein Tourist. Er kaufte Briefmarken. Er verwickelte den Schalterbeamten in ein langes Gespräch über Ersttagsbriefe; er suchte Postkarten aus und tauschte sie wieder gegen andere; sein Französisch war fürchterlich, aber er war entschlossen, sich darin zu unterhalten; und wenn er sich nicht verständlich machen konnte, verlegte er sich darauf, laut und langsam Englisch zu sprechen; an den Postschalter gelehnt, verfasste er lange Botschaften an abwesende Freunde und kritzelte sie auf Postkarten, während er aller Welt verkündete, wie wunderschön er die Stadt finde; kurz gesagt, er präsentierte sich als eine Art von Nervensäge, die, wie allen um ihn herum klar war, mit Vergnügen den ganzen Tag dort verbringen würde.
    Zum Glück für alle Betroffenen kam der Junge gerade mal eineinviertel Stunden nach Öffnung des Postamts.
    Beinahe hätte Joe ihn verpasst. Der Junge hatte braunes Haar und dunkle Haut, er war klein und schlüpfte unbemerkt zwischen den Erwachsenen hindurch, die kamen, um nach ihrer Post

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