Osama (German Edition)
zu sehen. An einem Schulterriemen trug er eine kleine braune Tasche. Joe hatte ihr kaum Beachtung geschenkt, der kleinen, schüchternen Gestalt, die durch die höhlenartige Halle mit wartenden Fächern hindurch auf das eine Ende einer Postfachreihe zusteuerte …
Da.
Für einen kurzen Moment befand sich Post in den Händen des Jungen. Umschläge. Ein kleines Päckchen. Ein paar Reklamezettel. Und dann waren sie in der kleinen braunen Tasche verschwunden, und der Junge wandte sich zum Gehen. Niemand konnte ihn gesehen haben.
Und zur Erleichterung der Angestellten der Postfiliale am Boulevard Haussmann hatte der lästige Tourist mit dem schlechten Französisch und den Pariser Manieren urplötzlich das Interesse an dem Schaukasten mit algerischen Briefmarken von vor der Unabhängigkeit, dem er in der vergangenen Viertelstunde so lautstark seine Aufmerksamkeit gewidmet hatte, verloren und war schließlich ziemlich unerwartet und nur mit einem knappen Merci von der Bildfläche verschwunden.
Joe selbst war ebenfalls erleichtert. Die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen fiel ihm schwer, fast wie eine physische Anstrengung, ein Gefühl echten Unbehagens, so als hieße, die Aufmerksamkeit dieser Leute zu erregen, körperlich nach ihnen zu greifen, und zwar indem er sich durch eine zähe, gelatinöse Flüssigkeit hindurchkämpfte, die sich seinen Bewegungen widersetzte und sie einschränkte. Es war ein merkwürdiges Gefühl, und es ging weg, als er seinerseits endlich wegging, benommen und ein wenig desorientiert. Die breite Straße, die er entlangtrottete, erschien ihm unwirklich, die sich fortbewegenden Autos kamen ihm wie durchsichtige krabbelnde Käfer vor, und die Bäume waren zum Himmel gereckte Hände, zu Fäusten geballt und wieder geöffnet, und als er sie anblickte, konnte er ihre Adern sehen, eine Landkarte aus Blutgefäßen, die den Stumpf einer Hand durchliefen. Er versuchte, das Gefühl abzuschütteln. Er brauchte Zucker, dachte er. Joe fühlte sich wie ein Mann, der Blut gespendet hatte: Er brauchte Kaffee, ein Stück Kuchen, dann würde es ihm wieder gut gehen. Stattdessen zündete er sich eine Zigarette an und hustete, behielt den Jungen und seine Entfernung von ihm im Auge und fragte sich besorgt, wer ihm sonst vielleicht noch folgte.
Er hatte nämlich den Eindruck, nicht allein zu sein. In Vientiane hatte jemand – vielleicht auch mehrere Jemande – ihn beobachtet, und in Paris hatte er ebenfalls Echos von ihnen gehört, nichts Konkretes, nichts Verbürgtes, sondern kleine Echos, die etwas abseits zurückkamen, ein Tonfall, die Art, wie eine Antwort formuliert worden war – zu glatt, zu schnell, so als hätte die befragte Person Gelegenheit gehabt, sich die Antwort im Voraus zurechtzulegen. Jemand anders konnte auf derselben Spur gewesen sein, sie konnten sogar Joe benutzen – das war eine Möglichkeit, die er nicht gerne in Betracht zog, aber sie war da, und so machte er sich Gedanken, rauchte, folgte dem Jungen in einiger Entfernung und hielt gleichzeitig nach einem Verfolger Ausschau, konnte jedoch niemanden entdecken, der ihm folgte, und ihm wurde klar, wie albern er gerade war, und doch …
Sie hatten auf ihn geschossen. Vielleicht war es nur ein Warnschuss, aber sie beobachteten ihn, jedenfalls musste er davon ausgehen, dass sie das taten, wer immer sie waren, was immer sie wollten – und ihm kam in den Sinn, dass er das früher oder später würde herausfinden müssen. Unterdessen lief der Junge unbekümmert weiter, ein anonymer kleiner braunhäutiger Junge, und bog in nördlicher Richtung vom Boulevard Haussmann ab, Joe immer hinterher, eine Straße entlang, die enger und ruhiger wurde, und wenn er in spiegelnde Schaufenster blickte, konnte er immer noch nichts und niemanden hinter sich sehen. Es war ein heißer Tag. Die Zigarette hatte ihm die Finger versengt, worauf er sie fallen gelassen hatte, und jetzt schwitzte er, und immer noch ging der Junge voraus mit der Post, die für jemand anderen bestimmt war, bis er schließlich eine Straße überquert hatte und auf einem grünen, grasbewachsenen Gelände verschwunden war, und dort blieb Joe stehen: Es war der Hintereingang des Parc Monceau.
Er zögerte, bevor er ihn betrat, wusste jedoch nicht, warum. Obwohl er noch nie dort gewesen war, hatte er das Gefühl, doch schon da gewesen zu sein. Es war das Wissen um eine Erinnerung, das an ihm nagte, nicht die Erinnerung selbst. Er kannte den Park, ohne zu wissen, woher oder
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