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Osama (German Edition)

Osama (German Edition)

Titel: Osama (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lavie Tidhar
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und als er wieder hinsah, war das Geld verschwunden. Diese Situation hatte etwas schrecklich Vertrautes für ihn: Sein Job verlangte, dass er Menschen für Informationen bezahlte, aber er fragte sich, wie oft dieser Mann wohl genau das erlebte und welche Fragen man ihm stellte. Und ob irgendjemand ihn dasselbe gefragt hatte wie er.
    »Dick und klein, wie schon gesagt«, erklärte der Mann. »Sieht ein bisschen aus wie ein Pilz – auch genauso weiß. Glaube nicht, dass er viel Sonne abkriegt.« Die beiden wechselten einen Blick. Viel Sonne bekamen sie genau in diesem Moment auch nicht ab.
    »Eine Ahnung, wo er wohnt?«
    Sein Gegenüber schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er.
    »Eine Ahnung, wo man ihn finden kann?«
    Der Mann dachte nach. »Nein«, sagte er.
    Joe wartete. »Manchmal kommt er her«, sagte der andere schließlich zögernd. »Wenn nicht hierher, dann in die Läden ringsum. Die Sexshops. Sie verkaufen seine Bücher. Außerdem schleppt er gern die Mädchen ab. Wie Ihre trinkende Freundin da. Allerdings hat Papa D. das Geld normalerweise nicht.«
    »Haben Sie ihn in letzter Zeit gesehen?«
    Der Mann schüttelte den Kopf.
    So war das gewesen. Joe holte sich wieder in die Gegenwart zurück, wo das gleichmäßige beruhigende Geräusch des Projektors in der Kabine oben wie eine Bettdecke über ihm lag. Es half nichts. Er dachte, mit dem Film stimme etwas nicht, schwarze und weiße Gestalten, die ein fremdartiges Ritual durchliefen, während er gelähmt auf der falschen Seite der Leinwand saß. Die anderen Zuschauer schienen in ihren Sitzen erstarrt, gebeugte Statuen aus verwittertem Stein.
    Auf der Leinwand feierten die missgestalteten Zirkusleute eine Party. Eine große Frau heiratete einen Liliputaner. Um den Tisch saßen ein Paar siamesische Zwillinge, zwei Mädchen ohne Arme, ein Mann ohne Beine und einer ganz ohne Gliedmaßen, ein Zwerg, dessen Kopf dem eines Vogels ähnelte, ein skelettartiger Mann, eine Gestalt, die auf der einen Körperseite ein Mann und auf der anderen eine Frau war, die Liliputaner und andere. Sie riefen etwas. Die Worte hallten in dem dunklen Kinosaal wider. Eine von uns , schrien die Missgestalteten. Eine von uns. Eine von uns. Joe versuchte, sich eine Zigarette anzuzünden, merkte aber, dass seine Hand zitterte. Er erhob sich und ging rasch durch die rückwärtige Tür, den schmalen Gang und das stille, leere Foyer hinaus in die Nacht. Die Luft fühlte sich feucht an, fiebrig, aber nicht wie in den Tropen: Der Geruch der Stadt hing wie schlaffe Wäsche in ihr, ein Geruch von Gehwegplatten und Betonblöcken und Autos und Abgasen und Rauch und Essen und Urin und verschüttetem Alkohol und vergossenen Tränen, es war ein Geruch von vielen Leben. Durch leere Straßen ging er zurück zu seinem Hotel und erklomm die stillen Treppen zu seinem Zimmer; und endlich übermannte ihn der Schlaf.

Detektivsein
    Den dicken Mann zu finden war nicht einfach gewesen. Nachdem er morgens früh aufgewacht war, trank er an einem Kiosk im Schatten von Sacré-Cœur im Stehen seinen Kaffee. Er nahm die Metro zum Boulevard Haussmann und hatte, noch ehe es öffnete, vor dem Postamt in der Nummer 102 Stellung bezogen.
    Joe war der erste Kunde.
    Er fand das Postfach ohne große Probleme. Das Postamt war ein alter, heruntergekommener Laden im Erdgeschoss von Nummer 102. Darüber befanden sich Wohnungen. Drinnen war der Verkehrslärm seltsam gedämpft und die Beleuchtung schummrig, der Fußboden bestand aus fleckigem Beton, und die schmutzigen Stellen auf dem Boden und an den Wänden konnten ebenso gut alte Blutflecken aus dem Zweiten Weltkrieg wie verschütteter Kaffee sein – das war schwer zu sagen. Obwohl die Frau, die auf die Postfächer aufpasste, keinen Ausweis von ihm verlangte, klimperte er in der Tasche deutlich hörbar mit den Schlüsseln und bewegte sich so selbstbewusst, als käme er nur seine morgendliche Post holen. In die Wände waren Reihe um Reihe kleine hölzerne Türchen, Tausende von Fächern, eingelassen. Schon kamen die ersten Kunden für diesen Tag herein, jeder in sein eigenes privates Universum gehüllt, jeder auf seine eigene kleine Adresse zusteuernd, und einen Moment lang verspürte Joe das Gewicht der Erwartungen dort, die Ansammlung von Briefen, die sich gleich hinter den kleinen verschlossenen Türen drängte, jenseits der dünnen behelfsmäßigen Holzwände und Metallgitter, die das Innere und Äußere dieses Außenpostens voneinander trennten. Er dachte an wilde Post, die

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