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Osama (German Edition)

Osama (German Edition)

Titel: Osama (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lavie Tidhar
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Züge: Er mochte Züge. In Zügen fühlte er sich sicher. Er dachte an Regen, denn als er eben zum Bahnsteig hinuntergegangen war, hatte er den Blick gehoben, und ein Sonnenstrahl war hinter dem Regen durch die Wolken gekommen, und für einen Moment hatte er geglaubt, sie zu sehen, die Frau, die mit der Bitte um Hilfe zu ihm gekommen war, und sie blickte ihn an, und ihre Augen waren trüb. Er hatte geblinzelt, und die Welt war wieder grau, die Wolkendecke über ihm schloss sich, die Frau war verschwunden, höchstwahrscheinlich hatte er sie sich nur eingebildet. Er stellte sich ihr Gesicht vor, aber es war, als fiele Regen in sein Gedächtnis und verschleierte ihr Gesicht hinter den Tropfen, und er fragte sich, warum der Gedanke an sie ein solches Gefühl in ihm auslöste. Dann trank er sein Glas leer, bestellte sich ein neues, s’il vous plaît, merci , zündete sich eine Zigarette an und dachte an gar nichts.
    Dies war die dritte oder vierte Bar, die er probierte, eine schäbiger als die andere, in jeder neuen war die Musik leiser, die Beleuchtung gedämpfter, der Alkoholkonsum größer. Es gab Frauen aus Asien, Afrika und Europa, eine kosmopolitische Mischung, und alle mit demselben übertriebenen Make-up, denselben zu kurzen Röcken, demselben Blick, in dem zugleich etwas Abschätziges, Skeptisches und Einladendes lag, und dahinter eine große, rastlose Müdigkeit, fast wie Angst, und die Männer, die in die Bars kamen, erwiderten diesen Blick mit ihrem eigenen, einer entsprechenden Mischung aus Hunger, Verschlossenheit, unverblümtem Verlangen und einer Spur Scham: Die Blicke waren ein Tanz, dachte Joe, ein verworrenes, kompliziertes Muster aus kreuz und quer verlaufenden Linien wie das Netz aus Bahngleisen bei St. Lazare, die einander immer wieder kreuzen, sich aber nie wirklich treffen, und wenn sie es täten, wäre das tödlich. Es war die dritte oder vierte Bar, genau konnte er es nicht mehr sagen, und die einzige Beleuchtung kam von überall im Raum verteilten dicken Kerzenstummeln, Paare tanzten zu langsamer, klagender afrikanischer Jazzmusik. Es gab behaarte Hände auf nackten Schenkeln, Lippen, die Ohren berührten, geflüsterte Worte, ein Fummeln im Halbdunkel, Stoff, der sich beim engen Tanzen an Stoff rieb, und jenseits davon, an der Bar sitzend, die einsamen Gestalten, die warteten oder noch unentschieden waren oder, wie er selbst: die Einzelgänger, die nur trinken wollten.
    Dort traf sie ihn an, die junge Frau vom Vortag, und sie setzte sich auf den Hocker neben ihm, wobei ihr der Rock an den Schenkeln hochrutschte und sie ihn mit geübter Hand glatt strich, und sie schüttelte ihr Haar zurück und sah ihn an, ohne zu lächeln, auch ohne ein Wort, aber freundlich.
    »Du solltest nicht allein trinken«, sagte sie. Er antwortete nicht.
    »Keiner von uns sollte das tun«, sagte sie. Er sah sie von der Seite an. Ihre großen Mandelaugen erwiderten seinen Blick unverwandt. Mit den Fingern gab sie dem Mann hinterm Tresen ein Zeichen, worauf dieser herübergeschlendert kam, kommentarlos Joes Glas austauschte und der Frau ein Schnapsglas hinstellte. Ohne ihn anzusehen, legte sie einen Schein auf den Tresen. Der Barkeeper nahm ihn und schlenderte davon.
    Die Frau ließ ihren Blick auf Joe ruhen. Ihre Augen waren wie Leinwände; er fragte sich, was er wohl projizierte. Die Frau sagte: »Woher kommst du?«
    Joe brach den Augenkontakt ab. Der Anblick seines Glases kam ihm gelegen. Er nahm einen Schluck, dann noch einen. Er hatte schon mehrere Gläser getrunken, während er von einer Bar zur nächsten gegangen war, immer auf der Suche nach einem dicken, blassen Mann – wie ein Champignon, hatte der Barkeeper einen Tag und mehrere Bars zuvor ihm erzählt – und mit einem Blick für Damen vom Gewerbe. Er hatte mehrere Männer gesehen, auf die die Beschreibung gepasst hätte, aber keiner von ihnen hatte sich als Papadopoulos erwiesen. Er spürte den Erwartungsdruck, der von der Frau neben ihm ausging, drehte sich widerwillig zu ihr um und sagte: »Hier und da.«
    »Hier und da«, sagte sie ausdruckslos, ihm nachsprechend, und er zuckte die Schultern. »Überall«, sagte er.
    »Überall«, ahmte sie ihn nach. Auf dem Tresen griff ihre Hand nach seiner; ihre Finger waren lang und braun und da, wo sie ihn festhielten, stark. Den Blick ihr zuwendend, fragte er sich, ob das gebleichte blonde Haar wohl eine Perücke war. Ihre sehr vollen Lippen wirkten sanft, ihre Augen dagegen waren hart. »Jeder kommt von

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