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Osama (German Edition)

Osama (German Edition)

Titel: Osama (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lavie Tidhar
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Zigarette zog und die Lichter in der dunklen Welt draußen zusammenlaufen ließ, Fragen stellte. Dieser Teil machte ihn unruhig und gereizt. Es war ein Teil, der andeutete, dass er sich im unterirdischen System verirrt hatte. Dass er die falsche Linie genommen und seinen Anschluss verpasst hatte, jedoch, statt sich das einzugestehen, im Zug irgendwo anders hin sitzen blieb.
    Nein. Es gab Fakten. Alles andere – der Monceau-Park mit seiner erfundenen Landschaft, die Männer in Schwarz, die Art, wie Papadopoulos ihn gefragt hatte: Sind Sie einer von ihnen? Flüchtlinge? –, nichts davon hatte eine Bedeutung jenseits, vielleicht, seiner Verbindung zu dem unmittelbaren Fall. Es war wichtig, und irgendwie verspürte er das Bedürfnis, sich immer wieder vorzusagen, nicht Realität und Fiktion durcheinanderzubringen.
    Nachdem das scheinbar gelöst war, bestellte er sich einen Tee, was in ihm den Verdacht weckte, dass es ihm doch nicht ganz so gut ging, denn Tee trank er nur, wenn er krank war, und er zündete sich eine neue Zigarette an, bevor ihm auffiel, dass die vorherige noch im Aschenbecher brannte. Er sah zu, wie ein weißer rundlicher Mann mit Knollennase, Schlapphut und einem schmierigen blauen Rucksack durch die Verbindungstür den Waggon betrat, gefolgt von einer unglaublich hübschen Chinesin, die mindestens fünfzehn Jahre jünger war als er; um ihren Hals hing ein Fotoapparat mit Teleobjektiv, und ihr langes Haar trug sie offen. Sie fanden einen freien Tisch, setzten sich und unterhielten sich leise, während ihre Finger sich über den Tisch hinweg berührten, bis der Mann die Berührung löste, um mit den Händen zu gestikulieren, und die Frau ihn in offenkundiger Zuneigung anlächelte. Die beiden hatten etwas sehr Reales und Solides an sich, und er fragte sich, was sie wohl in dem Burschen sah; sie hatten die Welt um sich gehüllt und für sich selbst neu erschaffen, und waren doch voll und ganz Teil davon, sonderbar und verwirrend und unerklärlich mit ihrer Beziehung, deren wahren Charakter oder Ursprung er nie kennen würde, ihrer gemeinsamen Geschichte, die etwas Privates zwischen ihnen beiden war, ihren Lebenswegen, die getrennt waren und sich jetzt verbunden hatten und später vielleicht auseinandergehen und sich erneut verbinden, bleiben oder gehen würden. An einem anderen Tisch saß ein Mann mit slawischen Gesichtszügen, dicker, von Silberfäden durchzogener schwarzer Bart, behaarte braune Hände, die sich um eine Kaffeetasse schmiegten. Drei junge blasshäutige Frauen mit Einkaufstaschen zu ihren Füßen saßen ebenfalls beieinander und unterhielten sich in schnellem Französisch. Er verspürte eine merkwürdige Abgrenzung von diesen Leuten, eine Distanz, die er nicht in Worte fassen konnte – oder wollte. Sie hatten den Waggon – den Raum in seinem Inneren – den Raum um sie herum – auf eine Weise in Besitz, die er nicht so recht verstehen konnte, von der er nur wusste, dass er sie – wiederum mit diesem kleinen aufsässigen Teil von ihm, den er gerade auszuschalten versuchte – nicht nachempfinden konnte, nicht nachempfand.
    Da war die Frau, in Paris. Er kannte nicht einmal ihren Namen. Aber er kannte sie . Die Verbindung zwischen ihnen beunruhigte ihn. Und dann war sie fort gewesen – wie Laub, das die Straße hinunterweht, wie Wolken, die sich über der untergehenden Sonne zusammenballen –, und er hatte keine rationale Erklärung dafür. Seine Gedanken wandten sich davon ab, von der Erinnerung an sie, und ebenso von der Erinnerung an den Parc Monceau, wo er einen Moment lang das merkwürdige Gefühl gehabt hatte, schon einmal da gewesen, Hand in Hand mit einem Mädchen spazieren gegangen zu sein … Er trank von dem kühler werdenden Tee, und der Geschmack in seinem Mund war der von zu lange gezogenen Blättern, und er schluckte ihn hinunter, stand auf und ging wieder in sein Abteil, und in einen schwarzen, traumlosen Schlaf.

Rote Blumen, blühend
    Er erwachte, kurz bevor es Zeit wurde, an Bord des Schiffes zu gehen, und dann kam die Fahrt übers Meer und, während er auf Deck stand und Ausschau hielt, der Sprühnebel kalten Meerwassers. Dann war da ein Mond, und die Kreidefelsen von Dover leuchteten kalkweiß in seinem Licht, nicht gespenstisch, sondern wie das Gesicht einer stummen Leiche, die sich im Tod von der über die schwarzen Wasser des Kanals herannahenden Fähre abwandte. Die Fähre legte an, und vom Land trieb der Wind Musikfetzen herüber, ein Jazzorchester, das auf

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