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Osama (German Edition)

Osama (German Edition)

Titel: Osama (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lavie Tidhar
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irgendjemandem ziemlich unbeeindruckt. Das Mädchen hatte lange schwarze Haare, der Junge war kahl geschoren, und keiner von beiden war viel älter als der engelsgleiche Angelo Colarossi zu der Zeit, als er für die Statue Modell gestanden hatte.
    »Ah, das Criterion!«, sagte der Fremdenführer irgendwie erleichtert, als er sich von dem Brunnen abwandte. »Herrliches Theater. Von Spiers und Pond an der Stelle des White Bear Inn erbaut – kommen Sie, folgen Sie mir, schließen Sie bitte auf! – und mit W. S. Gilberts wenig bekannter Operette Topsyturveydom eröffnet – im Weiteren haben wir hier –«
    Joe lächelte, während er sich eine Zigarette anzündete. Dem Piccadilly Circus selbst schien das Thema der Operette, das heillose Durcheinander, nicht fremd zu sein. Zwischen den Touristen, den Schulkindern, die unerklärlicherweise nicht in der Schule erschienen waren, den Straßenmusikanten, den Taschendieben, den Kleindealern, den Zigeunerinnen, die Papierblumen verkauften, den jungen Musikern mit ihren gebrauchten Gitarren, Pendlern, die in die U-Bahn-Station hinuntergingen oder aus ihr heraufkamen – zwischen ihnen allen schien die Welt sich tatsächlich permanent im Zustand eines heillosen Durcheinanders zu befinden. Er stand unter dem Engel der christlichen Nächstenliebe und wartete, in der Nase die Gerüche von Schweiß, Abgasen, Marihuanarauch, vorbeiwehenden Parfüms, Röstzwiebeln, anbrennenden Würstchen, verschüttetem Bier und schließlich dem Rauch einer billigen Zigarre, als er den Mann sah, der im (von der Reisegruppe mittlerweile frei gemachten) Eingang des Theaters wartete. Joe ging zu dem Mann hinüber.
    »Joe?«, fragte der Mann. Joe nickte. Sie schüttelten sich die Hand. Der Mann war kahl und rund und hatte kleine, tief liegende Augen. Er trug einen schmutzig braunen Regenmantel und paffte, während er sprach, an einer dünnen braunen Zigarre. Joes Blick bemerkend, sagte er: »Hamlet.«
    »Hamlet?«
    »Die Zigarre. Wie Sein oder nicht sein , verstehen Sie?«
    »Klar. Shakespeare.«
    »Genau.«
    »Und welches ist es nun?«, fragte Joe.
    »Welches ist was?«
    »Sein oder nicht sein?«
    »Ach so«, sagte der Mann und lächelte, wobei er von Nikotin gefleckte Zähne offenbarte. »Das ist die Frage, stimmt’s?«
    Der Mann hieß Mo, und Joe hatte ihn in dem Telefonbuch gefunden, das in seinem Hotel neben dem Telefon lag. Er hatte unter Privatermittler nachgesehen. Joe musste zugeben, dass Mo auch so aussah. Er hatte ein schmuddeliges, abgetragenes Aussehen, wie ein Taschenbuch, das lange in einem Rucksack herumgeschleppt worden war. Und er sah unauffällig aus. Keiner der Vorbeigehenden schenkte ihnen mehr als einen flüchtigen Blick. Sie hätten zwei körperlose Schatten sein können, die da vor dem Theater standen, während die Menschheit weiter um sie herumwogte.
    Joe wohnte im Regent Palace Hotel auf der anderen Straßenseite. Das Gebäude gefiel ihm. Sein Zimmer im fünften Stock war klein und fensterlos. Die Duschen lagen am Ende eines breiten, leeren Gangs. Im Regent Palace hätte eine Armee sich verlaufen können. Als Joe die endlosen Korridore entlangging, begegnete er keiner Menschenseele, und das einzige Geräusch war das seiner Schuhe auf dem Fußboden, ein Rhythmus wie der eines schlagenden Herzens, der Sekunden und Minuten und das Fortschreiten der Zeit zählte. Beim Einchecken hatte der Hotelportier ihm mit etwas Wehmut in der Stimme gesagt: »Wissen Sie, wenn man früher ein Mädchen für die Nacht haben wollte, rief man in der Rezeption an und bat um ein Extrakopfkissen.«
    »Und heute?«, fragte Joe. Er bezahlte bar. Der Portier zuckte die Schultern, blickte ihm in die Augen und sagte: »Man fragt einfach nach einem Mädchen. Ich heiße Simon. Wenn Sie irgendwas brauchen, rufen Sie mich an.«
    »Danke«, sagte Joe. Dann war er im Aufzug hochgefahren; einen anderen Hotelgast hatte er seitdem nicht gesehen.
    London gefiel Joe. Ihm gefielen seine Menschenmengen, seine ständige Bewegung, seine Eile und Geschäftigkeit. In London gab es eine andere Art, allein zu sein, nicht bemerkt zu werden. Es war eine Stadt, in der es leicht war, zu verschwinden, ein Gesicht in der Menge zu werden, das niemand zweimal ansehen würde.
    »Wollen Sie, dass wir irgendwohin gehen, wo man sich besser unterhalten kann?«, sagte Mo. Joe folgte den Augen des Mannes zu der großen Guinness-Uhr über den Reklameschildern gegenüber. Es war kurz nach zwölf. »Vielleicht einen Pub?«
    »Haben Sie die

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