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Osama (German Edition)

Osama (German Edition)

Titel: Osama (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lavie Tidhar
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BBC lief. Es war eine kalte, klare Nacht.
    Aus einem einzelnen Automaten zog er sich einen Milchkaffee im Styroporbecher, rauchte eine Zigarette und stampfte mit den Füßen, während die anderen Passagiere von Bord gingen, die Männer feindselig und mit verschwollenen Augen, die Frauen, die mit ihren zerzausten Haaren und gegen den Wind erhobenen Händen abwehrend und unglücklich aussahen. Für Joe dagegen lag in diesem Augenblick so etwas wie Frieden. Der Moment des Übergangs war wie das Epizentrum zweier gegenläufiger Kräfte, wie das Gleichgewicht, das entsteht, wenn auf einen Körper von allen Seiten ein gleicher Zug ausgeübt wird und den Moment der Unbewegtheit schafft, den man freier Fall nennt. Für Joe waren das Augenblicke erlesener Ruhe, eine vollkommene Gegenwart ohne Zukunft und ohne Vergangenheit. Er liebte die Wartezeiten, die unausgefüllten Zeiten, die endlosen Augenblicke, die sich zwischen dem Gehen und dem Gegangensein erstreckten.
    Leichter, vom Wind gepeitschter Regen kam übers Wasser, und Joes erloschener Zigarettenstummel trieb, über dem Grund schwebend, zu seinen Füßen, und für einen Moment starrte er ihn wie versteinert an, so als betrachtete er ein fremdartiges Artefakt oder einen seltsamen, unbekannten Überrest einer alten Zivilisation. Dann lachte er, ein Geräusch, das den weiten, offenen Raum um ihn herum irgendwie wärmer erscheinen ließ, und schloss sich den übrigen Passagieren auf dem Weg zum wartenden Zug an. Die Klippen von Dover blieben, kreideweiß und blass, zurück, ihre Gesichter, viele inzwischen, aufs Meer hinausstarrend. Joe starrte durchs Fenster zurück; drinnen war es warm, und die Feuchtigkeit ließ die Scheiben beschlagen, so dass er das Fenster mit dem Ärmel abwischen musste. Er drückte sein Gesicht ans Glas, das sich an seiner Haut kühl anfühlte, und spähte nach draußen. Er überlegte, was die Gesichter von Dover sahen, wenn sie aufs Meer hinausblickten. Auf der anderen Seite des Kanals wuchsen die Mohnblumen, irgendwo jenseits des Wassers, in der französischen Landschaft, durch die er vor so kurzer Zeit gefahren war; er malte sich ein Mohnfeld aus, unter dem ein Menschenfeld eingesät und abgeerntet worden war. Der Zug nahm Fahrt auf, doch Joe presste noch lange sein Gesicht an die Scheibe, starrte über die sanfte, mondbeschienene, von silbernem Regen besprühte englische Landschaft hinweg und sah wie durch einen feinen Dunst quer über die stille Welt unzählige rote Blumen erblühen.

TEIL DREI
    Irrwirre

Der Engel christlicher Nächstenliebe
    Um das Standbild des Anteros am Piccadilly Circus herum wimmelte es von Touristen, und die Sonne sickerte durch schmutzige graue Wolken und legte einen dünnen Schweißfilm auf Unterlippen von Frauen und Stirnen von Männern. Wie Herden primitiver Pflanzenfresser fuhren Autos rund um das Rondell, und an der hohen Fassade über dem Café Monico gegenüber dem Anteros warben riesige schmiedeeiserne Reklametafeln für Lipton, Wrigley’s und köstliche Coca-Cola. Eine große Glocke zeigte die Guinness-Zeit an. Joe stand unter der Statue. Der Gott der Gegenliebe und der Rächer der verschmähten Liebe war ein Jüngling mit Flügeln wie die der Tauben, von denen es überall am Circus nur so wimmelte. Mit angehobenem Bein stand er auf seinem Sockel über dem Brunnen, den Bogen hochgehalten, die Augen glasig. Er bestand aus Aluminium, geschaffen nach dem Modell eines sechzehnjährigen italienischen Jungen, Angelo Colarossi. Der Junge war inzwischen alt geworden und gestorben. Anteros blieb jugendlich. Eine Reisegruppe ging an Joe vorbei und blieb neben dem Brunnen stehen, und ihr Führer, glatzköpfig und schwitzend in der lichtlosen Feuchtigkeit, sagte, so als setzte er einen früheren Monolog fort: »Und das ist der berühmte Engel der christlichen Nächstenliebe, im Jahr 1893 an dieser Stelle errichtet und nach dem Zweiten Weltkrieg genau hier wieder aufgebaut –«
    »Ich dachte, das wäre Eros«, sagte ein Mann aus der Gruppe mit einem starken holländischen Akzent und maisgelbem Haar. Der Fremdenführer lächelte und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Ein landläufiger Irrtum, Sir«, sagte er. »Obwohl er ursprünglich tatsächlich der Bruder des Gottes der sinnlichen Liebe sein sollte –«
    Ein Doppeldeckerbus, durch dessen Fenster die Leute auf das Gewühl herabschauten, fuhr vorbei. Joe sah ein junges Paar, das sich auf den Stufen des Brunnens küsste, von der Reisegruppe oder sonst

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