Osama (German Edition)
der Wand. Er hätte sie beinahe gar nicht bemerkt. Nur das Geräusch, das sie von sich gab, ein leises Wimmern, ließ ihn innehalten. Er hockte sich neben sie. Irgendetwas an ihr war sonderbar. Ihre braune Haut wirkte verblasst, und als er mit der Hand sanft ihren Kopf hob und ihr in die Augen blickte, schien er durch sie hindurch die Mauer zu sehen, so als hätten die Augen ihre ganze Substanz verloren, als wären sie zu Fenstern in ein leeres Haus geworden. Die Hand der Frau umfasste eine Flasche, doch die war leer. Die Frau blinzelte, als er sie berührte. »Ach, du bist’s«, sagte sie.
»Ich bin’s«, sagte er. Und: »Ist alles in Ordnung?«
Die Frau versuchte zu lachen. Wie gluckerndes Wasser quoll das Geräusch aus ihr heraus. Später, als er sich zu erinnern versuchte, kam es ihm so vor, als wären alle Töne, die sie von sich gab, lediglich die Geräusche der Straße gewesen, als hätte sie in Verkehrslärm gesprochen, und in den Wörtern des öffentlichen Durchsagesystems und im Geräusch des Windes. Niemand störte sie. Leute gingen vorbei, ohne hinzuschauen. Fast schien es ihm, während er sie hielt, dass niemand und nichts da war, dass das, was er da hielt, nur ein Haufen neben dem Bahnhof zurückgelassener alter, billiger Kleider war. »Ich kann nicht mehr«, sagte die Frau. »Ich war in einem Bus. Der Bus war voll mit Menschen. Ich war in einem Bus, und …« Ihre Augen schlossen sich. Einen Moment lang war es so, als wäre sie gar nicht da. »Ich war in einem Bus …«
»Warte!« Er wusste nicht, was ihn rufen ließ.
»Keinen Drink mehr. Keinen Sex mehr … Ich spüre es nicht, wenn ich’s tue. Es ist, als wäre ich eigentlich gar nicht da. Eigentlich gar nicht da. Ich war in einem Bus …« Sie blickte zu ihm auf, aber es war nichts in ihren Augen. »Kannst du mich nach Hause bringen?«
Er antwortete nicht, und sie seufzte, und das Geräusch erinnerte an den Wind, wenn er Blätter über den Gehweg wirbelte. »Vielleicht gibt es ein Anderswo …«, sagte sie, und dann ein merkwürdiges Wort: »Nangilima.«
Dann war sie irgendwie verschwunden. Er wusste hinterher nicht, was passiert war. Nur dass sie nicht mehr da war, das wusste er. Er erhob sich aus der Hocke und blickte sich um, konnte sie jedoch nicht sehen, und die Menschen, die vorbeigingen, wichen nie aus, und wie ein Betrunkener ging er davon, in die große Bahnhofshalle, das Uhrwerk in seinem Inneren immer noch irgendwie tickend, und am Schalter sagte er: »Londres«, zahlte für die Fahrkarte, und weniger als eine Stunde später saß er im Zug.
IM ÜBERGANG
Verpasste Verbindungen
Der Zug tuck-tuck-tuckerte aus dem Gare du Nord hinaus, durch Industrielandschaften, grau gesprayten Feldern gleich, auf denen nichts wuchs. Die Straßenlaternen warfen gespenstische Schimmer über die nackten Mauern dieses wenig gefragten Teils der Stadt. Die Innenstadt blieb immer weiter zurück, und er glaubte, dort irgendetwas verpasst zu haben. Es hatte sie gegeben, dachte er – Hinweise, auf Gehwegen verstreut, in heruntergekommenen Bars fallen gelassen, grelle Leuchtschilder, die sagten: Du folgst der falschen Spur.
Aber was war die Spur? Das waren die Fakten: Er hieß Joe. Er war Privatermittler. Er war engagiert worden, um einen Mann zu finden, und hatte zu diesem Zweck mehr als ausreichende Mittel erhalten. Alles andere …
Das waren die Fakten. Fakten waren wichtig. Sie trennten Fiktion von Realität, die geschmacklose Welt des Mike Longshott von den konkreten Räumen von Joes Welt. Alles andere …
Er saß im Speisewagen, rauchte und sah zu, wie die Lichter von Paris, einer Wolke auseinandergestobener Motten gleich, in der Ferne verschwanden. Züge hatte er immer gemocht. Dieses Gefühl von Zeitlosigkeit in der Art, wie sie sich durch eine Landschaft bewegten, diese Geborgenheit in ihrem Rhythmus und ihrem gleichförmigen Muster, diese Ordnung von Geräusch und Bewegung. Die Zugpfeife ertönte und brachte Joe zum Lächeln. Der Speisewagen war halb leer, und außer dem schwer in der Luft hängenden Rauch konnte er frisch aufgebrühten Tee und Bohnerwachs riechen, und als der Zug beschleunigte, klirrten die Fenster ein ganz klein wenig, und die Räder drehten sich mit einer wohltuenden Gleichmäßigkeit, und die Fenster beschlugen, und der Waggon war wie ein Kokon, und er verspürte nicht den Wunsch, ihn zu verlassen.
Bis auf einen kleinen Teil von ihm. Es war ein Teil, der, während er aus dem rasenden Zug hinausstarrte, an seiner
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