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Osama (German Edition)

Osama (German Edition)

Titel: Osama (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lavie Tidhar
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Es war, als wäre der Raum professionell gesäubert worden oder erst gar nicht bewohnt gewesen. Er brach das Schloss des Aktenschranks auf, doch der war leer. In der untersten Schublade des Schreibtischs hatte er jedoch Glück. Die Schublade war kürzer als die darüber. Nachdem er sie herausgezogen hatte, fuhr er mit der Hand in die Lücke und tastete darin herum. Da war etwas. Es gelang ihm, es zu packen, herauszuziehen. Es war eine weitere Zigarrenkiste, aber schwer. Er stellte sie auf den Schreibtisch und machte sie auf.
    Zigarren waren das nicht.
    Darin befand sich eine kleine, aber robuste Pistole, eine vierschüssige COP 357 Derringer, und Joe nahm sie und ließ sie in seine Tasche gleiten. Außerdem ein Umschlag mit fünf Einhundert-Pfund-Scheinen, den er zurücklegte. Dann noch eine schlecht gemachte Zeichnung vom Gesicht einer Frau. Er fragte sich, ob sie von Mo stammte. Linien waren ausradiert und nachgefahren worden, bis das Papier ganz dünn geworden war. Joe fragte sich, wer sie war, warum Mo kein Foto von ihr besaß, so dass er immer und immer wieder versuchte, sie zu zeichnen. Das Geld und das Bild der Frau legte er in die Kiste zurück, machte sie zu und stellte sie wieder in ihr Versteck.
    Ein letztes Mal sah er sich in dem Büro um. Die Bücher. Er ging zum Regal und zog die Taschenbücher eins nach dem anderen heraus. Er suchte Vorsatz- und Nachsatzpapiere ab, fand jedoch nichts als Andeutungen von Stockflecken. Als Nächstes blätterte er sie durch, schüttelte sie mit dem Buchrücken nach oben auf der Suche nach irgendetwas zwischen den Seiten Verborgenem. Beim vierten Buch, das er untersuchte, hatte er Glück. Ein rechteckiges Stück hellblaues Papier flatterte aus den Seiten der Bombardierung des Sinai heraus zu Boden. Er hob es auf. Es war ein Garderobenabholschein. Nachdem er ihn in die Tasche gesteckt hatte, stellte er das Buch an seinen Platz auf dem Regal zurück.
    Er warf noch einen letzten Blick in den Raum, der einen unbenutzten, verlassenen Eindruck machte. Joe ging zurück zum Schreibtisch und schloss vorsichtig den Deckel der Zigarrenkiste. Zum Glück gab es in dem Raum keinen Spiegel. Er hätte sich nicht darin sehen wollen. Erneut suchte er den Raum ab, doch Mo war immer noch nicht da. Zwischen den Staubkörnern sah er den Verlust schweben.
    Es gab keine Sarkophage in dem Raum; keine alten Krüge, keine Verzierungen aus Jade und Gold. Ja nicht einmal einen Kalender.
    Die dunkelrote Rose, die er in Klein-Kairo gekauft hatte, ließ er auf dem Schreibtisch liegen. Dann verließ er den Raum.

Ein Bohnenhügel
    Irgendetwas stimmte nicht. Er wusste es, fühlte es, konnte das Gefühl aber nicht genau zuordnen. Es hatte mit den Büchern zu tun. Ohne bewusst darüber nachzudenken, ging er denselben Weg zurück. Wieder durch den geschäftigen Markt, vorbei an Bäckereien, Fischhändlern und Gemüseständen, an billigem Plastikspielzeug, das sich über eine Decke auf dem Gehsteig ergoss, vorbei an lauter Musik in einer Sprache, die er nicht sprach, an den Düften von Kaffee, der geröstet, und Lamm-Kebab, das gegrillt wurde, vorbei an Männern in Galabijas, einer Telefonzelle, deren Hörer nicht auf der Gabel hing, und er dachte über Ursache und Wirkung nach, und eine Art von Krieg, die er nicht verstand.
    Die Frage, die ihn die ganze Zeit geplagt hatte, war zu klein und gleichzeitig zu groß. Es war die Frage, warum.
    Es hatte nichts mit der realen Welt zu tun, sondern einzig und allein mit der fiktiven, Mike Longshotts Welt, der Welt von Europäischem Feldzug und Bombardierung des Sinai und Einsatz: Afrika . Der Welt des World Trade Center , was immer das war. Es waren Kriegsbücher. Doch er verstand den Krieg nicht, und das Gefühl, das ihn von innen her erdrückte, das seine Fingerknochen schmerzen und nicht stillhalten ließ, sagte ihm, dass er es eigentlich sollte.
    In der Edgware Road fand er ein Café, ging hinein und setzte sich ans Fenster. Männer aus dem Nahen Osten saßen um Tische herum, tranken, unterhielten sich. Zwei rauchten eine Shisha zusammen. Der Inhaber kam zu ihm und fragte: »Was darf ich Ihnen bringen?«, worauf Joe sagte: »Kaffee.«
    Der Mann war korpulent und schnauzbärtig mit Augen wie dunkelgrüne Oliven. Er brachte ihm einen langstieligen Topf und eine kleine Porzellantasse, um gleich darauf mit einem Glas Wasser und zwei Stücken Baklava, Gebäck aus hauchdünnen, mit Sirup übergossenen Schichten, auf einem kleinen Teller ein zweites Mal zu

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