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Osama (German Edition)

Osama (German Edition)

Titel: Osama (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lavie Tidhar
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kommen.
    »Läuft das Geschäft gut?«, fragte Joe. Der Inhaber zuckte die Schultern. »Inschallah«, sagte er. »Man muss zufrieden sein.«
    Der Kaffee war bitter, und Joe biss in ein Stück Baklava und trank dann wieder, so dass das Gebäck den pechschwarzen Kaffee süßer machte. Krieg, dachte er. Und dann – war Massenmord ein Verbrechen , oder war es ein politischer Akt? Und wer entschied das?
    In den Longshott-Büchern musste es noch etwas geben, dachte er. Immer wieder überflog er sie, aber irgendetwas musste er übersehen haben. Zum ersten Mal kamen die Bücher ihm seltsam unwirklich vor. Er dachte an die ganzen dort beschriebenen Anschläge. Wenn man all die Verletzten und Toten zusammenzählte, dachte er, wären es immer noch nicht so viele Menschen, wie in einem einzigen Monat in nur einer Stadt durch Verkehrsunfälle ums Leben kamen. Es war ein Krieg der Angst, dachte er, nicht der konkreten Zahlen vor Ort. Es war ein Krieg der Erzählung, die Geschichte eines Krieges, und er wuchs beim Erzählen. Aus irgendeinem völlig unerfindlichen Grund musste er an einen Hügel aus Bohnen denken. Leben in einem Bohnenhügel. Er lachte. Die Shisha am Nachbartisch stieß dicke Wolken von Rauch mit Kirscharoma aus. Und dann dachte er – wenn das ein Krieg war, wie viele Tote gab es dann auf der anderen Seite?

Kuckucksmutter
    »Noch Kaffee?«, fragte der Inhaber. Joe schüttelte den Kopf, erhob sich. Er zahlte, ging hinaus und stand eine Weile nachdenklich im schwachen Sonnenlicht der Edgware Road. In seiner Tasche lag der Abholschein aus Mos Büro. Um anderen Spuren nachzugehen, war es zu spät. Oder zu früh. Was machen Leute in London?, fragte er sich. Und dann fiel es ihm ein – natürlich.
    Er nahm den Bus zurück in die Stadt. Er saß auf dem Oberdeck, vorne an den großen Fenstern, und sah auf die langsam vorbeiziehenden Straßen der Stadt hinaus. Sie waren grau und solide, wie ein Buchhalter. London hatte etwas Behagliches an sich, seine kleinen ausgeprägten Viertel, seine schmalen Gassen, verstopften Straßen. Aus der Gegenrichtung sah er einen anderen roten Doppeldeckerbus vorbeikommen, einem asiatischen Elefanten gleich, der von seinem Elefantenführer angetrieben wurde. Vor ihm fuhren zwei schwarze Taxis, wie Käfer. Fast rechnete er damit, dass sie Flügel ausbreiteten und in den Himmel hinaufschwirrten. Irgendetwas in seinem Inneren fühlte sich verloren an. Das war nicht die Zukunft, die er erwartet hatte. Es gab keine fliegenden Autos, keine silbernen Anzüge, und die einzigen Aliens, die auf der Straße herumliefen, waren Menschen. Es gab Araber und Inder und Chinesen und Malaien, Juden und Afrikaner, einen ganzen Planeten voller Flüchtlinge, die auf dem Mutterschiff London Zuflucht suchten. Von hier aus waren Kriege angezettelt, Kolonien erobert worden. Von hier, von diesem riesengroßen, ausufernden Verwaltungszentrum aus war ein ganzes Reich in dreifacher Ausfertigung regiert worden. Kein Wunder, dass wir hierherkommen, dachte er. Die Stadt war eine Kuckucksmutter, die Kinder annahm, die ihr nicht gehörten, sie annektierte, sie aufzog in einer eigentümlichen Mischung aus missionarischer Aktivität, wirtschaftlicher Ausbeutung und guten Absichten. Als die Zeit kam und die Kinder ihre Unabhängigkeit wollten, war die Mutter verletzt, und sie kämpften. Und jetzt kamen manche der annektierten Kinder, die ganz und gar keine Kinder waren, zurück, weil sie sonst nirgendwohin gehen konnten.
    An der Haltestelle Oxford Street stieg er aus und ging den überfüllten Boulevard entlang, vorbei an großen, hell erleuchteten Kaufhäusern. Die Stadt war ein hungriges, unersättliches Wesen, das nach seinem Tee und seiner Arznei, seinem Essen und seiner Kleidung und all den Dingen verlangte, die anderswo herkamen. Es war eine Stadt der Güter, deren riesige Lagerhäuser bis zum Rand mit den Erzeugnissen von hundert verschiedenen Orten gefüllt waren. Er wusste, wohin er gehen musste, und es war ein kurzer Fußweg: die Oxford Street entlang, über den St. Giles Circus, wo keine Leichen mehr im Wind seufzten, die New Oxford Street hinunter und nach Bloomsbury hinein.
    Früher gab es dort Weingärten und Wald für hundert Schweine. Heute dagegen Pubs und Buchhandlungen; allerdings war es ziemlich wahrscheinlich, dass zumindest manche der Bücher in Schweinsleder eingebunden waren – was etwas über den Fortschritt aussagt.
    Auf der Great Russell Street bog er nach rechts ab. Es war friedlich. Ein Gefühl,

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