Osama (German Edition)
frühen Nachmittag feuerten unbekannte Angreifer vor dem Red Lion in Soho Schüsse ab, Glas ging zu Bruch; die Gäste waren verstört. Eine Frau wurde wegen leichter Schnittwunden behandelt. Weitere Verletzte gab es nicht. »Wir nehmen das sehr ernst«, sagte ein Poli-zeisprecher, »und verfolgen alle vorliegenden Hinweise.«
Kein Mo. Kein Wort von Joe, der bewusstlos dalag. Irgendwie hatte er das auch gar nicht erwartet. Irrwirre, dachte er. Das Wort hinterließ einen schlechten Geschmack in seinem Mund. Er dachte: Flüchtlinge. Er fragte sich, was für Hinweise die Polizei wohl hatte. Vielleicht analysierten sie Proben von Zigarettenasche. Vor seinem geistigen Auge sah er sie, mit runden Vergrößerungsgläsern bewaffnet, über die ganze Stadt ausschwärmen und mit gebeugtem Rücken nach Spuren suchen. Er griff nach seinen Zigaretten, besann sich, dass man in Bibliotheken nicht rauchen durfte. Also keine Spur für die Polizei.
Eine andere Zeitung, diesmal ein Boulevardblatt. Dieselbe Story aufgebauscht, eine Stellungnahme, der Ton entrüstet, Zuwanderer sind schuld, die Regierung muss die Kontrolle über die verbliebenen Kolonien verstärken, im Unterhaus wird eine Ausweitung der Festnahmerechte gefordert. Oberhaus dagegen. Wie lange können wir unsere Kinder in Angst aufwachsen lassen?
Joe sah sich um. Im belebten Kinderbereich machte niemand einen verängstigten Eindruck. Sie malten mit Farbstiften, blätterten leuchtend bunte Bücher durch. Er fragte sich, was sie wohl lasen. Er dachte an Mike Longshott: das Osama-bin-Laden-Malbuch. Den Bart könnte man einfach weiß lassen. Die Augen himmelblau und leer malen.
Wieder bei der seriösen Zeitung, in der Morgenausgabe des folgenden Tages dieselbe Nachrichtenmeldung nur noch auf Seite vier. Auch am nächsten Tag danach gesucht, da ist sie weg, als wäre nie etwas geschehen. Leb wohl, Mo. Obwohl er nichts in der Zeitung erwartet hatte, ärgerte es ihn. Unsichtbare Menschen, dachte er. Ob irgendjemand irgendwo Mos Ableben betrauerte? Sich an ihn erinnerte, um ihn weinte, ihn wieder herwünschte? Ob er noch existierte, manche Teile von ihm, manche Fragmente, sein Geruch, sein Lächeln, die Berührung durch seine Hand, seine Stimme beim Sprechen, die Art, wie er sich die Ohren säuberte, existierte all das irgendwo, geheime Inschriften im Kopf von jemand anderem?
Er legte die Zeitung hin. Der Tisch vor ihm war eine bewegliche Landschaft aus schmutzig blauer Tinte und verschmiertem Papier. Er war in die Bibliothek gekommen, um eine Leiche zu finden, und sie war nicht da. Trotzdem. Er war stur, so als hätte er etwas zu beweisen. Ein Teil von ihm kämpfte dagegen an, riet ihm aufzuhören. Er tat es nicht. Es gab noch einen Ort, wo er Mo sicher finden konnte.
Das Telefonbuch.
Ein Forscher in einem Stummfilm
Als er sich der U-Bahn-Station Leicester Square wieder näherte, schien die Menschenmenge an ihm zu zerren, und er hatte den irrationalen Gedanken, gegen sie anzugehen. Stattdessen schob er sich durch die versammelte Gemeinde und fand sich am Eingang wieder. Stufen führten nach unten. Ein Bettler saß, über einem Rucksack zusammengesunken, im Eingangsbereich, ein Taschenbuch lesend, an den Füßen einen Hundenapf, in dem Münzen herumlagen. Als er merkte, dass Joe ihn betrachtete, hob er den Kopf, und Joe erhaschte einen flüchtigen Blick auf das Buch, das natürlich ein Osama bin Laden -Roman war, die bevorzugte Lektüre der Obdachlosen, und der Bettler, fast noch ein Junge, dachte Joe, sagte: »Das ist ganz schön starker Tobak, Kumpel.«
In Paris hatte er sich nicht so gefühlt. Hier dagegen schnürte der Gedanke, in die U-Bahn zu gehen, ihm fast die Luft ab. Er warf dem Bettler eine Münze in den Napf. »Kauf dir neuen Lesestoff«, sagte er. Dann ging er nach unten.
Er studierte einen Plan des U-Bahn-Netzes, verschiedenfarbige Linien, die sich wanden und einander überschnitten, und ihm wurde klar, dass er die Linie nach King’s Cross nehmen und umsteigen musste. Der Netzplan mutete wie herausquellende Gedärme an. Joe kaufte sich eine Fahrkarte, passierte die Schranke und stieg weiter hinunter, tiefer in die Erde, und plötzlich war es still und merkwürdig friedlich. Während er darauf wartete, dass der Zug einfuhr, beobachtete er die herumwuselnden Ratten unter dem Bahnsteig, im Tunnel. An den Wänden wurde für Produkte geworben, die er nie kaufen oder benutzen würde. Der Zug kam, und er stieg ein. Die Türen schlossen mit einem leisen Zischen,
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