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Osama (German Edition)

Osama (German Edition)

Titel: Osama (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lavie Tidhar
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gegenüber nicht ganz ehrlich gewesen.
    Er konnte den Gegenstand an seiner Brust spüren. Er rauchte die Zigarre, bis sie nur noch ein Stummel war, ein Haufen graublauer Asche, die sich zu seinen Füßen sammelte. Was von der Zigarre übrig war, ließ er fallen und zertrat es mit dem Fuß. Er wartete auf etwas, stellte er fest. Der Eindruck, beobachtet zu werden, verstärkte sich. Plötzlich wurde er wütend. Er hatte es satt zu warten und stand auf. »Jetzt kommt schon!«, rief er. Leute drehten den Kopf nach ihm um. Zwei junge Japanerinnen eilten von ihm fort auf die Stufen zu. »Kommt schon! Ihr wollt mir eine ballern? Worauf wartet ihr noch?«
    Um ihn herum herrschte Stille. Der Vorplatz schien erstarrt, das Sonnenlicht in Glas gefangen, während Staubteilchen und kleine Sandpartikel, die den ganzen Weg von der Sahara quer über Europa zurückgelegt hatten, reglos in der Luft schwebten. Er hatte das Gefühl, die einzige lebende Person zu sein, und um ihn herum waren die lebenden Toten wie Staŧuen in den eingefrorenen Bewegungen, die nirgendwohin führten, erstarrt. »Kommt schon«, sagte er, weniger kraftvoll. Im Freien war seine Stimme brüchig. Es gab keine Antwort.
    »Scheiß drauf!«, sagte Joe. Dann ging er davon.

Wieder verloren
    Ziellos ging er durch die Straßen Londons. Er glaubte, verfolgt zu werden, konnte jedoch niemanden sehen. Die frühmorgendliche Energie hatte ihn verlassen, und er fühlte sich schwer und träge. Als er in einer Seitengasse der Oxford Street Mos Mantel durchsuchte, fand er in der eingenähten Tasche ein kleines Notizbuch, fest gebunden, mit ordentlichen handschriftlichen Einträgen in blauer Tinte. Er steckte das Notizbuch in seine eigene Tasche und warf den Mantel weg. Irgendwo in dem Labyrinth von Straßen entdeckte er einen kleinen Pub, suchte sich einen Platz abseits des Fensters und trank Bier. Die Spezialität des Pubs waren Würstchen. Die Speisekarte führte ungefähr zwanzig Varianten davon. Die Engländer, dachte er, hatten einmal den größten Teil der bekannten Welt erobert, aber ihre Küche war dadurch nicht besser geworden. Es war still im Dog & Duck. Ihm kam es vor, als verbrächte er sein ganzes Leben in Bars und Kneipen, und er fragte sich, ob es je anders gewesen war. Er konnte sich nicht erinnern. Was er wusste, war, dass er eigentlich Mos Tagebuch wegwerfen, Chinatown vergessen, die unerwünschten Rätsel hinter sich lassen sollte, die sich abwickelten wie das Fadenknäuel im Labyrinth des Minotaurus. Er hatte eine einfache Aufgabe zu erfüllen, nur wurde sie immer weniger einfach. Das Fadenknäuel war verwickelt, verknotet, aber immer noch ein einziger Faden, das wusste er tief in seinem Inneren, dort, wo die absolute Finsternis seiner Nacht herrschte. Er wusste nicht, wie lange er in dem Pub saß, aber draußen wurde es dunkler. Noch war es keine nächtliche Dunkelheit, bloß eine graue, formlose Abwesenheit von Licht, ein Londoner Sommertag. Es begann zu regnen. Er zündete sich eine Zigarette an, hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Er trank sein Glas leer und bestellte ein neues. Nach dem zweiten ging es ihm besser, wie wenn Lichtstreifen an einem schmutzigen Fensterrahmen erschienen. Er dachte an den Geruch von Opium, der süß, aber schwer zu beschreiben war. Er dachte an die junge Frau, die ihn engagiert hatte, und sein Verstand beschwor ihr Bild herauf, das ernste Gesicht, die anliegenden, feinen Ohren und das weiche braune Haar, ihre Hand auf seiner, ihre Stimme, als sie sagte: »Ich möchte, dass Sie ihn finden.«
    Er konnte niemanden finden, am allerwenigsten sich selbst. An sie zu denken war merkwürdig beruhigend. Er fühlte sich von der Welt um ihn herum getrennt, so als wäre er ein Mann in einem Stummfilm, der im Traum durch leere Vorkriegsstraßen ging, ein unsichtbarer Mann: Doch der Gedanke an die Frau linderte seine Einsamkeit. Vielleicht war es aber auch das Bier.
    Irrwirre, dachte er. Ist es die Welt, die irre und verschwommen geworden ist, während ich bis jetzt klar geblieben bin? Oder ist es gerade umgekehrt, die Welt immer noch da, aber ich wechsle zwischen Schärfe und Verschwommenheit hin und her, so wie diese junge Frau in Paris, deren Namen ich nie erfahren habe, die aber meinen wusste, so wie Mo, der da, aber auch nicht da war, ein Schatten, der sich in einer Welt von Schatten bewegte und dabei …
    Dabei was? Die Schatten störte, beschloss er. Das war es nämlich, was Mo getan hatte. Er zog Mos Tagebuch hervor und

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