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Osama (German Edition)

Osama (German Edition)

Titel: Osama (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lavie Tidhar
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betrachtete es blinzelnd, aber die blauen Buchstaben verschwammen. Joe trank von seinem Bier und spülte sich mit der Flüssigkeit den Mund aus.
    Er schluckte und klappte das Tagebuch abermals auf.
    Wenn wir hier sind, müssen sie es auch sein.
    Es gab keine Daten, keine detaillierten Zeichnungen. Nur eine Reihe von wahllos verstreuten, hingekritzelten Notizen. Er blätterte das Notizbuch durch und stellte fest, dass lediglich die ersten sieben Seiten benutzt worden waren. Der Rest war leer. Auf der ersten Seite in fetten Buchstaben, so als hätte Mo ihre Linien immer wieder nachgezogen und dabei fast das Papier durchgedrückt, von einem gezackten Rahmen umgeben, in tiefblauer, fast schon schwarzer Tinte, eine Frage.
    Aber wo?
    Auf Seite drei, ziemlich weit unten. Hab sie bis Heathrow verfolgt, dann aber verloren.
    Seite vier, Mitte. Hab sie heute wieder gesehen. Bis Holborn hinter ihnen her. Wieder verloren .
    Auf Seite zwei ganz unten rechts, in kleiner, trotzdem ordentlicher Schrift: R. im BN getroffen. Streit betr.: inv. H. ihm ges. LMAA .
    Die Einstellung gefiel Joe. Er sah sich die Notiz noch einmal an. R. im BN getroffen … Abermals zog er die zweite der beiden Visitenkarten hervor, die er in Mos Mantel gefunden hatte. Sie war beinahe identisch mit der, die Joe selbst bei sich hatte, der, die seine Mandantin ihm in dem Pub im Regent Palace gegeben hatte. Beinahe. Er drehte die Karte um. Rick , von Hand auf die Rückseite geschrieben. Das passte – und BN konnte Blue Note heißen. Bindfäden, die alle miteinander verknotet waren … Wen verfolgte Mo? Nicht Longshott, Mike, Taschenbuchautor, Adresse unbekannt. Sie . Verlor sie in Heathrow. Wohin gingen sie?
    Er dachte an schwarze Schuhe und ein kariertes Hemd. Dachte: zu dieser Jahreszeit ist Vientiane schön …
    Letzter Eintrag, Seite sieben, ziemlich weit oben. Hab sie gefunden. Darunter säuberlich in einem Kästchen: U-Bahn-Station Britisches Museum .
    Joe stand auf. Der Mann hinterm Tresen war mit Gläserwaschen beschäftigt. Joe bat um einen Plan der Londoner U-Bahn. Nahm ihn mit an seinen Platz. Studierte ihn.
    War im Grunde nicht überrascht, als er feststellte, dass es eine solche Station nicht gab.

Eine andere, bessere Welt
    Eine halbe Stunde später saß er, den Blick über die Straße auf die namenlose Tür von Madam Seng’s gerichtet, im Edwin Drood. Bevor er die schmierige Tür des Pubs aufgeschoben hatte, hatte Joe körperlichen Ekel überwinden müssen. Das Edwin Drood war nur spärlich mit Öllampen erleuchtet, die in niedrigen dunklen Nischen zischten und rauchten. War das Dog & Duck ganz viktorianische Pracht in Spiegelglas und Vergoldung gewesen, so war das Edwin Drood viktorianisch im Sinne von offenen Abwasserkanälen und Leichenhändlern. Der Mann hinterm Tresen war alt, ohne Haare, aber mit Altersflecken von der Größe und Farbe von Zwei-Pence-Münzen am Kopf, kleinen, schmalen Augen und buschigen weißen Augenbrauen, und aus den Ohren wuchsen ihm wie magische Bohnenstangen dieselben strähnigen Haare. Er funkelte Joe an, servierte ihm dennoch schweigend einen Drink, und als Joe das Glas mit dem warmen Bier zu einem Tisch an den dreckigen Fenstern trug, spürte er, wie der Mann ihn unverwandt anstarrte. Der Geruch von Opium im Edwin Drood war stark, es war jedoch ein Nachgeruch, eine hartnäckige, nachhaltige Ausdünstung, die von den schweigenden Trinkern ausging. Joe beobachtete sie mit halbem Auge, während sie dasaßen, starr ihre Gläser umfassend, einander nicht ansehend, auch nicht nach draußen schauend: den Blick gesenkt, in die Gläser oder in sie selbst, zu diesem dunklen, geheimen Ort, an den das Bewusstsein geht, wenn man ihm das Paradies entzogen hat.
    Sie waren armselige Kreaturen. Der Geruch des Opiums hing an ihren Kleidern, aber in ihnen war es nicht. Abwechselnd wurden sie von Kälteschauern und Schweißausbrüchen gepackt. Ihre Blicke waren gequält.
    Opium, dachte Joe. So wie es jeden Schmerz zu vertreiben vermochte, konnte seine Abwesenheit noch größeres Leid hervorrufen. Hier waren die Unglücklichen, die das verheißene Land nicht betreten durften. Gleich jenseits der Fenster lag es, ein Wunderland des Bewusstseins, doch die Wüste, die der Newport Place darstellte, konnten sie nicht durchqueren. War es die vorübergehende Abwesenheit von Geld? Der Versuch, sich gegen die Anziehungskraft der Droge zur Wehr zu setzen? Oder warteten sie lediglich in stummer Agonie, in Erwartung der gedrehten Kugeln aus

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