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Osama (German Edition)

Osama (German Edition)

Titel: Osama (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lavie Tidhar
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klebrigem Harz, der langen, anmutigen Pfeifen, des Zischens einer Flamme und des Murmelns eines Mädchens, während es die Pfeife erhitzte und die Dämpfe begannen, auf ihre Münder zuzurollen und sie endlich in eine andere, bessere Welt zu schicken?
    Joe blickte zum Fenster hinaus und sah die Schatten von Madam Sengs Kunden, wenn sie sich der Tür ohne Namensschild näherten. Er beobachtete, wie sie klopften, wie die Tür sich einen Spalt öffnete – beobachtete den Augenblick des Richterspruchs. Die Erwählten verschwanden im Inneren. Die Zurückgewiesenen nahmen ihre Zurückweisung mit. Manche kamen ins Edwin Drood und schlossen sich der Bruderschaft der Schweigenden an. Das war jedenfalls, dachte Joe, eine Erklärung für die Klientel.
    Als er sah, wie eine einzelne Gestalt auf die Tür zuging, beschloss er zu handeln. Er stand auf und ging hinaus, wo die kühle Luft ihn aufweckte. Er beschleunigte seinen Schritt und erreichte den Mann in dem langen schwarzen Mantel gerade in dem Moment, als er an die Tür klopfte. Er trug eine flache runde Metalldose unter dem Arm.
    »Lassen Sie mich Ihnen behilflich sein«, sagte Joe, gerade als die Tür aufging. Der Mann drehte sich zu ihm um, blinzelte, sagte: »Sie sind doch der Kerl, der kürzlich im Laden war –«
    »Sie bringen Film?« Der Mann in der Türöffnung, derselbe wie beim letzten Mal, sprach, unmittelbar bevor er Joe bemerkte; dann: »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Sie nicht –«
    Die runde Metalldose – der Mann im Mantel sagte: »He, Vorsicht damit!« – nahm sie ihm aus dem Arm und hob sie mit einer geschmeidigen Bewegung hoch – »Kommen Sie her!«, von dem Mann im Eingang, als das Metall sich hob, mit seinem Kinn zusammentraf, das Geräusch eines Kieferknochens, der gestaucht, vielleicht gebrochen wurde, und Joe stieß heftig mit dem Knie zu – der Mann im Mantel sagte: »Was zum Teufel machen Sie …« – der Mann im Eingang brach zusammen …
    Joe stieß die Tür auf und ging hinein.

London nach Mitternacht
    »Ist das die Filmrolle für heute Abend?«, fragte eine Stimme. »Danke, Sie können sie mir geben.« Die Metalldose wurde ihm aus der Hand genommen, und Joe machte große Augen.
    Sie trug einen japanischen Kimono, ihr Gesicht aber war eine Mekong-Delta-Mischung, die Augen eines wilden Bergwesens, goldgefleckt und betörend schön, betrachteten Joe kühl. Sie war nicht jung, aber alt konnte man sie wahrlich auch nicht nennen. In ihr floss vietnamesisches Blut und französisches und Hmong, und an den Augenwinkeln hatte sie Lachfältchen, und Joe dachte an das Graffito, das er gesehen hatte: Madam Seng ist ein Schlangenkopf . Auf ihr Gesicht bezog sich das nicht.
    »Kann ich etwas für Sie tun?«, sagte sie. Ihr Englisch hatte einen leichten indonesischen Einschlag. Die Augen sahen ihn an, ohne zu blinzeln, musterten ihn, hinter ihm der zu Boden gefallene Türsteher. Von dem Mann aus der Buchhandlung keine Spur. Er muss weggerannt sein, dachte Joe. Vernünftig, unter den Umständen. Er war halbwegs geneigt, dasselbe zu tun.
    »Ich suche Madam Seng«, sagte er.
    »Warum?«, fragte sie. Und dann: »Dieser Ort ist nichts für Sie.«
    »Liegt es an der Kleiderordnung?«, fragte Joe. »Das ist es, oder? Ihnen gefallen meine Schuhe nicht?«
    »Nein«, sagte die Frau. »Obwohl Ihre Schuhe mal wieder geputzt werden könnten, wenn Sie’s genau wissen wollen.«
    »Man stelle sich das vor, eine Opiumhöhle mit Einlasskriterien«, sagte Joe. Er verspürte den Drang, sich zu bücken und mit dem Ärmel über seine Schuhe zu fahren, unterdrückte ihn jedoch. Die Augen betrachteten ihn mit einer Spur Belustigung. »Man stelle sich ein solches Etablissement ohne sie vor.«
    Hinter ihnen stöhnte der Türsteher. Die Frau sagte: »Steh auf.« Sie sprach leise, aber mit durchdringender Stimme. Der Mann stöhnte aufs Neue, rollte sich auf die Seite und rappelte sich hoch.
    »Tut mir leid, das mit Ihrem Türsteher«, sagte Joe. »
    Nicht so sehr wie ihm.«
    Der Mann blickte Joe finster an, dann presste er die Kiefer zusammen. »Geh«, sagte die Frau. Der Türsteher ging.
    »Sie sind Madam Seng?«
    Das überhörte sie. »Dieser Ort ist nichts für Sie«, sagte sie erneut. Diesmal ohne Belustigung, und die Augen waren dunkel jadefarben.
    Joe zuckte die Schultern. »Tja«, sagte er, »jetzt bin ich hier.«
    »Opium ist für Leute, die schon etwas verloren haben«, sagte die Frau. »Nicht für Leute, die schon verloren sind.«
    »Das ist faszinierend«, sagte Joe.

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