Osama (German Edition)
Sie versuchte, ihn durcheinanderzubringen. Das würde ihr nicht gelingen. »Wenn Sie mir nur ein paar Fragen beantworten könnten …«
Die Frau lächelte. »Folgen Sie mir«, sagte sie. Sie kehrte ihm den Rücken zu, die Filmdose immer noch in der Hand.
Joe folgte.
Der Eingang zu Madam Sengs Etablissement war ein dunkler, niedriger Korridor, an dessen Ende sich ein Perlenvorhang befand. Madam Seng schob ihn nicht auf, sondern glitt durch ihn hindurch, wobei die Perlenschnüre sich mit einem leisen Klirren vor ihr teilten. Dahinter …
Dahinter lag ein großer Raum. Zwei Türöffnungen, ebenfalls mit leichten Vorhängen versehen, führten in andere Zimmer. Die Luft war dick vom Opiumgeruch, das Licht spärlich, schwach schimmernde blutfarbene Papierlaternen, die eine Szene benommener Trägheit erleuchteten. Auf niedrigen Sofas lagen mit Drachen und Sternen bestickte Kissen, in die Madam Sengs treue Kunden sich zurücklehnten. In einer Ecke verbrannte Holzkohle auf einer dreibeinigen metallenen Pfanne. Madam Sengs Mädchen bewegten sich geschmeidig zwischen der liegenden Kundschaft, Frauen wie Männern, hielten frische Pfeifen für die bereit, die sich tief in die Traumreise begeben hatten, erhitzten das Opium in seinen Metallschalen, murmelten leise in Sprachen, die die Kundschaft weder kannte noch kennen wollte. Joe fühlte sich benommen, die Arme schwer. Die Frau hielt seine Hand. Er flüsterte: »Madam Seng«, und sie nickte. »Sie sollten nicht hier sein«, sagte sie, zum dritten Mal.
»Keiner von uns sollte das sein«, sagte er, obwohl er nicht wusste, was er damit meinte.
In einer Ecke sah er einen Projektor. Das Geräusch der sich drehenden Filmrolle war ein ständiges Wispern in dem Raum. An der gegenüberliegenden Wand lief ein Schwarz-Weiß-Film, ohne Ton. Auf dem Weg vom Projektor zur Wand fing der Lichtstrahl Staubpartikel und Rauchkringel ein.
Zwischentitel: In den letzten fünf Jahren sind dort sonderbare Dinge geschehen .
Szene: Ein Dienstmädchen steht an einer offenen Tür und starrt voller Entsetzen nach draußen. Sie schreit ohne Ton.
Joe: »Ich ermittle in einem Mordfall.«
Madam Seng lächelte mit dem Mund. »Bitte setzen Sie sich«, sagte sie. Neben dem Projektor gab es ein freies Liegesofa, das auf die Wand gegenüber zeigte. Nachdem Madam Seng ein Kissen aufgeschüttelt hatte, forderte sie Joe mit einer Handbewegung auf, Platz zu nehmen. Die Glieder schwer, ließ er sich dankbar nieder. Madam Seng setzte sich neben ihn.
Szene: Eine junge Frau bricht in Tränen aus. Ein Mann setzt sich neben sie und schaut hilflos zu.
Ausblendung.
Madam Seng: »Lassen Sie die Toten ihre Toten begraben.«
Das Opium roch stark in dem Raum. Joe blinzelte; seine Augen schienen eine Ewigkeit zu brauchen, um auf- oder zuzugehen.
Joe: »Sie tauchen immer wieder auf.«
Madam Seng: »Wie Falschgeld?«
Szene: eine Fledermaus, die gegen eine zerbrochene Fensterscheibe flattert. Ein Rollladen klappert im Wind.
Joe: »Wie ein Fragezeichen.«
Madam Seng lächelte; diesmal erreichte es ihre Augen. »Ich habe gelernt, dass man sie sparsam benutzen soll.«
Szene: Zwei Gestalten kommen eine breite Treppe herunter. Eine ist ein Mann, er trägt eine Laterne, die er sich vors Gesicht hält. Auf dem Kopf hat er einen schwarzen Kastorhut, und sein Gesicht ist leichenblass und fratzenartig. Seine Erscheinung hat etwas Unheimliches an sich. Die Frau neben ihm ist ähnlich blass. Während sie die Treppe herunterkommen, übergibt der Mann mit dem Kastorhut der Frau die Laterne. Am Fuß der Treppe trennen sie sich.
Wieder blinzelte Joe; diesmal brauchten seine Augen noch länger, um sich zu öffnen. »Das Opium«, sagte er. Madam Seng neben ihm nickte. »Es ist Segen und Fluch zugleich«, sagte sie. »Ruhen Sie sich aus.« Sie legte ihm die Hand auf die Stirn. Ihre Hand war kühl. Sanft strich sie ihm das Haar zurück. »Es ist eine Tür, die man nicht leichtfertig aufstoßen sollte.«
»Sind Sie ein Schlangenkopf?«, fragte Joe. Die chinesische Bezeichnung für einen Menschenschmuggler. Madam Seng schüttelte den Kopf. »Nicht in diesem Zusammenhang«, sagte sie.
Welcher Zusammenhang?
Szene: Zwei Männer in einer Bibliothek, die sich unterhalten.
Zwischentitel: Sie meinen, ein Geist?
»Ruhen Sie sich aus«, sagte Madam Seng noch einmal. »Sie hätten nicht herkommen sollen, aber jetzt sind Sie hier.«
Irgendwie schienen die Worte für Joe eine tiefere Bedeutung zu haben. Er hob die Hand, und es war, als
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