Oscar
Futter verdienen. Vielleicht ist das hier so was Ähnliches wie Oscars Job.«
»Soso. Dann will ich mich mal wieder an
meinen
Job machen«, sagte ich und öffnete ein Krankenblatt, nach dem ich die letzten zehn Minuten gesucht hatte. Die Unterlagen, die man gerade dringend braucht, sind immer erst einmal verschwunden, das kann jeder bestätigen, der in einer solchen Institution arbeitet. Offenbar sah meine Tätigkeit äußerst verlockend aus, denn plötzlich entzog Oscar sich Marys Händen und sprang auf die Schreibplatte, an der ich stand. Dort drehte er sich zweimal um die eigene Achse, bevor er sich auf meinen Unterlagen niederließ.
»Könnten Sie ihn bitte weglocken?«, fragte ich gequält.
»Die Welt gehört den Katzen«, sagte Mary. »Wir werden darin nur geduldet.«
Ich zerrte das Krankenblatt unter Oscar hervor, der mich finster anstarrte.
»Du willst wohl, dass ich woanders arbeite, was?«, kommentierte ich.
Mary gluckste. »David, mit einer Katze streitet man nicht. Da zieht man doch den Kürzeren. Wissen Sie das immer noch nicht?« Sie stand auf und bot mir ihren Platz an. »Hier. Ich muss jetzt sowieso nach Ruth Rubenstein schauen.«
»Gibt es da irgendetwas Wichtiges?«
»Das weiß ich noch nicht. Jedenfalls will Mr.Rubenstein mit mir sprechen.«
»Brauchen Sie Verstärkung?«, fragte ich.
Mary grinste. »Nein, ich glaube, das schaffe ich schon alleine. Aber achten Sie auf Ihren Pager, falls ich Sie später brauchen sollte.«
Während Mary den Flur entlangging, dachte ich an den Tag, an dem ich die Rubensteins zum ersten Mal gesehen hatte.
Ich liebe meine Arbeit, obwohl sie manchmal nicht sehr erfreulich ist. Oft bin ich der Überbringer schlechter Nachrichten, der Detektiv, der die unangenehme Wahrheit ans Tageslicht bringt. Und um im letztgenannten Bild zu bleiben, arbeiten die Verdächtigen nur allzu oft zusammen und schützen sich gegenseitig. Das können Mutter und Tochter sein oder, wie im Falle der Rubensteins, Mann und Frau. Dabei versuchen sie, mich aus ihrem Leben herauszuhalten, obwohl sie doch zu mir gekommen sind, weil sie Hilfe suchen.
Das ändert nichts daran, dass ich ihnen eine schlechte Nachricht präsentieren muss. Ich bin derjenige, der bestätigt, was sie tief in ihrem Innern oft bereits wissen. Es ist schon nicht leicht, jemandem zu sagen, dass er von Krebs, einer Herzerkrankung, einem Emphysem oder irgendeiner anderen schrecklichen Krankheit betroffen ist, die so viel Leiden mit sich bringt, bevor sie zum Tod führt. Besonders schwer jedoch ist es, einem Menschen zu sagen, dass er an einer Demenz leidet, selbst wenn er das intuitiv schon weiß.
Das musste ich auch bei den Rubensteins tun, einem liebevollen Ehepaar, das mich etwa drei Jahre zuvor zum ersten Mal konsultiert hatte. Ich musste in die Augen einer achtzigjährigen Frau blicken, die ich gerade untersucht hatte, und ihr das Leben verderben. Aus Erfahrung wusste ich, dass ihr Mann dabei mit einem Blick dasitzen würde, der mich an ein im Scheinwerferlicht erstarrtes Reh erinnerte. Ich kannte diesen Blick nur allzu gut: Er drückte aus, ich sei alles in einer Person – Richter, Schöffe und Henker. Bis zu einem gewissen Grad stimmte das sogar. In solchen Momenten fiel mir immer eine Stelle aus
Alice im Wunderland
ein, wo die Maus auf ein Rechtsverständnis stößt, das ihr keine Chance lässt:
»Ich bin Richter, ich bin Schöffe«, sprach listig die alte Wut. »Ich verhandle den Fall, und das Urteil ist dein Tod.«
An dem Tag, als ich die beiden kennenlernte, war ich zuerst bei Mr.Earl gewesen, einem äußerst liebenswerten Fünfundachtzigjährigen ohne große gesundheitliche Pro-bleme und mit einem lebhaften Verstand. Während der medizinischen Untersuchung berichtete er mir in allen Einzelheiten von dem Buch, das er gerade las. Anschließend folgten Neuigkeiten über seine Arbeit bei einer gemeinnützigen Institution und über sein Vorhaben, im Winter nach Florida zu reisen. Als ich mit der Untersuchung fertig war, setzte ich mich zu ihm. Obwohl ich mit meiner Terminplanung schon ein wenig im Hintertreffen war, wollte ich ihn noch ein wenig weitererzählen lassen, bevor ich zur Tür ging, um den Besuch zu beenden. Er freute sich über diese Geste, entschuldigte sich jedoch anschließend, mich länger in Anspruch genommen zu haben als geplant.
»Mr.Earl«, sagte ich und hob abwehrend die Hand, »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Wenn ich so alt bin wie Sie, wäre ich gern auch so gesund und
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