Osiris Ritual
er sich schwere Verletzungen
eingehandelt, und wenn sich eines dieser Vehikel näherte, musste er immer an
das Schicksal des Gegners denken, dessen Kopf auf dem Pï¬aster zerplatzt war,
nachdem er im Kampf heruntergestürzt war.
Seufzend zog er den Mantel enger um die Schultern. Hoffentlich half
ihm die frische Luft, bis zum Abendessen den Kopf freizubekommen.
Gleich nach den Ermittlungen in Winthrops Haus hatte er Veronica im
Büro aufsuchen wollen. Sie war jedoch schon gegangen und hatte ihm mit ihrer
makellosen Handschrift eine kleine, knappe Nachricht auf dem Schreibtisch
hinterlassen:
Â
Sir Maurice,
in Ihrer Abwesenheit habe ich mir erlaubt, Amelia zu besuchen.
Ich hoffe, wir sehen uns morgen früh im Büro, damit wir unsere Ermittlungen
fortsetzen können.
Miss Veronica Hobbes
Â
Es schmerzte ihn, dass er sie versetzt hatte. Im Grunde
wusste er schon, dass die vermissten Frauen längst tot waren, wie nutzlose
Puppen in die Themse geworfen oder anderswo im Osten der Stadt ganz
unzeremoniell in hastig ausgehobenen Gräbern verscharrt. Er wünschte sich, er
könnte helfen, doch er musste sich um seine eigenen Aufgaben kümmern, und im
Moment hielt Ihre Majestät es für wichtiger, dass er sich mit den Missetaten
des abtrünnigen Agenten William Ashford befasste. Es missfiel Newbury, dass das
Leben eines Geheimagenten Vorrang vor dem Leben vieler Frauen aus der
Arbeiterklasse genieÃen sollte, doch er wusste auch, dass ihm noch lange nicht
alle Fakten bekannt waren. Beispielsweise hatte er keine Ahnung, was Ashford
suchte und wozu er fähig war. Möglicherweise verkörperte der Mann sogar eine
noch viel gröÃere Gefahr als der Entführer. AuÃerdem ging es nicht nur darum,
Winthrops mutmaÃlichen Mörder zur Strecke zu bringen, sondern auch darum, einen
Verräter zu stellen â einen Verräter, der alles über die geheimsten Operationen
Ihrer Majestät wusste â, ehe dieser noch mehr Schaden anrichten konnte.
Statt seine eigensinnige Assistentin zu suchen, hatte Newbury sich
in Johnny Changs heimliche Zuï¬ucht zurückgezogen und den Nachmittag im
Opiumrausch verbracht. Dabei hatte er sich alle losen Fäden des Falls durch den
Kopf gehen lassen und in seinem Gedächtnis nach einer möglichen Lösung
geforscht. Fast war er bereit, sich einzugestehen, dass er sich nur etwas
vormachte, doch andererseits war das bei Weitem nicht alles. Die Droge
versetzte ihn in die Lage, sich zu entspannen, sich in seine eigene stille Welt
zurückzuziehen, wo sein Instinkt deutliche Worte sprach und er das Chaos von
Spuren, Hinweisen und Geheimnissen aus einem ganz neuen Blickwinkel betrachten
konnte. Es war auch keine vergebliche Liebesmüh gewesen, denn das Opium hatte
ihm tatsächlich geholfen, einen Plan zu entwickeln. Er wusste nun, wie er mit
Ashford verfahren würde. Er wollte dem Mann eine Falle stellen. Dazu brauchte
er nur noch ein wenig â¦
Auf einmal hatte Newbury den deutlichen Eindruck, dass er beschattet
wurde. Mit gesträubten Nackenhaaren sah er sich aufmerksam um. Als er hinter
sich leise Schritte hörte, so nahe, dass er unwillkürlich die Hand zur Faust
ballte, fuhr er abrupt herum. Er hatte den Eindruck, jeden Moment könnte ihn
jemand anfallen, doch als er nach hinten blickte und den vermeintlichen
Angreifer suchte, war niemand in der Nähe. Die StraÃe hinter ihm war fast
menschenleer, das Gedränge hatte sich verlaufen, als wären die Geschäftsleute
und Passanten einfach mit der Dunkelheit verschmolzen. Nun waren auf der anderen
StraÃenseite nur noch ein paar Menschen unterwegs, die alle in die andere
Richtung gingen.
Die mehrstöckigen Häuser warfen lange, bedrohliche Schatten, ein
paar Gaslaternen glühten gelblich in der Abenddämmerung. Der Wind pfiff
gespenstisch durch die Zäune.
Ratlos ging Newbury weiter. Ständig hatte er das Gefühl, am Rande
seines Gesichtsfelds lauerte jemand, doch wann immer er sich über die Schulter
umsah, konnte er niemanden entdecken, der ihm folgte. Er fragte sich, ob es am
Opium lag, das seinem Verstand Streiche spielte und
die Schatten in bizarre Lebensformen verwandelte. Dabei wusste er besser als
die meisten anderen, dass die dunklen Ecken Londons tatsächlich garstige
Bewohner beherbergten, denen man besser aus dem Weg ging. Wesen aus den
Albträumen von Kindern, halb Geist und halb Fleisch und Blut, lauerten in
Weitere Kostenlose Bücher