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Osten, Westen

Osten, Westen

Titel: Osten, Westen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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herausgefischt und anschließend in einem Tobsuchtsanfall die Wahrheit aus ihr herausgeprügelt – da barg Atta das Gesicht in beiden Händen und verkündete schluchzend, er sei überzeugt, das Haar verfolge sie, um sie zu bestrafen, und sei zurückgekehrt, um das Werk zu vollenden.
     
    Nun war es an Huma, einen Ausweg aus dem Dilemma zu ersinnen.
    Mit grün und blau geschlagenen Armen und dicken Blutergüssen auf der Stirn umarmte sie den Bruder und flüsterte ihm zu, sie sei entschlossen, sich dieses Haares zu entledigen, koste es, was es wolle – diesen letzten Satz wiederholte sie mehrmals.
    «Das Haar», erklärte sie sodann, «wurde aus der Moschee gestohlen, also kann es auch aus diesem Haus gestohlen werden. Aber es muss ein echter Einbruch sein, ausgeführt von einem erfahrenen Dieb, nicht etwa von uns, die wir unter dem Fluch des Haares stehen – von einem Dieb, der so verwegen ist, dass er weder eine Verhaftung noch die Verdammnis fürchtet!»
    Leider, setzte sie hinzu, werde der Diebstahl jetzt zehnmal so schwer sein, nachdem der Vater gemerkt habe, dass schon einmal ein Versuch unternommen worden war, ihm die Reliquie
zu entwenden, und er dementsprechend vorsichtiger geworden sei.
    «Werden Sie es schaffen?»
    In dem nur von einer Kerze und einer Sturmlaterne beleuchteten Gelass beendete Huma ihren Bericht mit einer letzten Frage: «Welche Garantien können Sie mir geben, dass dieser Auftrag Sie nicht doch noch abschrecken wird?»
    Der Verbrecher spie aus und erklärte, es sei nicht seine Gewohnheit, Referenzen anzugeben wie ein Koch oder ein Gärtner, aber er lasse sich nicht so leicht einschüchtern, ganz gewiss nicht durch einen Kinderschreck von einem Fluch. Mit dieser Prahlerei musste sich Huma zufriedengeben; also beschrieb sie ihm nunmehr die Einzelheiten des geplanten Einbruchs.
    «Seit dem misslungenen Versuch meines Bruders, das Haar in die Moschee zurückzubringen, hat sich mein Vater angewöhnt, seinen kostbaren Schatz unter dem Kopfkissen aufzubewahren, wenn er sich schlafen legt. Aber er schläft immer allein und wälzt sich dabei heftig hin und her. Sie brauchen nur sein Zimmer zu betreten, ohne ihn aufzuwecken, dann wird er sich mit Sicherheit so oft herumgeworfen haben, dass der Diebstahl selbst kein Problem mehr darstellt. Sobald Sie die Phiole haben, kommen Sie zu mir ins Zimmer» – hier überreichte sie Scheich Sín einen Plan der Villa –, «und ich werde Ihnen sämtlichen Schmuck aushändigen, der mir und meiner Mutter gehört. Sie werden feststellen ... dass er sehr wertvoll ist ... das heißt, Sie werden ein Vermögen dafür bekommen ...»
    Es war nicht zu übersehen, dass ihre Selbstbeherrschung nachließ und sie sich am Rand eines physischen Zusammenbruchs bewegte.
    «Heute Nacht», stieß sie schließlich hervor. «Sie müssen unbedingt noch heute Nacht kommen!»

    Sie hatte den Raum kaum verlassen, da wurde der Körper des alten Verbrechers von einem Hustenanfall geschüttelt; er spuckte Blut in eine alte vanaspati- Dose. Der große Scheich, der König der Diebe, war ein sehr kranker Mann, und mit jedem Tag rückte der Zeitpunkt näher, da ihm irgendein junger Bewerber um den Thron einen Dolch ins Gedärm stoßen würde. Seine lebenslange Spielleidenschaft hatte ihn inzwischen wieder fast so arm werden lassen, wie er es damals, vor Jahrzehnten, gewesen war, als er, ein kleiner Taschendieblehrling, in dieser Branche begonnen hatte. Deshalb sah er in dem außergewöhnlichen Auftrag der Tochter des Geldverleihers seine letzte Chance, auf einen Schlag genügend Reichtum zu erlangen, um das Tal endgültig zu verlassen und sich den Luxus eines ehrenwerten Todes zu gönnen, bei dem sein Gedärm intakt bleiben würde.
     
    Was nun das Haar des Propheten betraf, so hatten weder er noch seine blinde Frau je viel für Propheten übriggehabt – das war etwas, das sie mit der vom Donner gerührten Familie des Geldverleihers gemeinsam hatten.
    Es wäre jedoch sinnlos gewesen, seinen vier Söhnen die Umstände dieses seines letzten Verbrechens zu verraten. Zu seiner Bestürzung waren sie alle zu hoffnungslos frommen Männern herangewachsen, die sogar davon sprachen, eines Tages nach Mekka zu pilgern. «Absurd!», lachte ihr Vater sie jedes Mal aus. «Erzählt mir mal, wie ihr das anstellen wollt!» Denn mit der unbedingten Liebe eines Vaters hatte er sichergestellt, dass sie allesamt mit einer ihr Leben lang niemals versiegenden Quelle hohen Einkommens versorgt waren, indem

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