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Osten, Westen

Osten, Westen

Titel: Osten, Westen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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er sie gleich nach der Geburt zu Krüppeln machte, damit sie, wenn sie sich in der Stadt umherschleppten, besonders gute Einkünfte im Bettelgeschäft erzielten.
    Die Kinder konnten also für sich selber sorgen.

    Er und seine Frau aber würden sich binnen kurzem mit den Schmuckschatullen der Frauen aus dem Geldverleiherhaus davonmachen. Das Glück, das dieses schöne, geschundene Mädchen in seinen Schlupfwinkel geführt hatte, war wirklich zur rechten Zeit gekommen.
     
    In dieser Nacht lag die große Villa am Seeufer, die Mauern von Stille umhüllt, wie schlafend da. Es war eine Nacht für Einbrecher: Wolken am Himmel und Nebelschwaden über dem Winterwasser. Hashim, der Geldverleiher, schlief; er war der Einzige der Familie, der in jener Nacht Schlaf fand. Nicht weit entfernt lag sein Sohn Atta, in dessen Gehirn sich ein Blutgerinnsel bildete, in den Fängen des Komas, behütet von seiner Mutter, die ihr langes graues Haar offen trug, um ihren Kummer zu zeigen. Mit dem Ausdruck lähmender Hilflosigkeit legte sie ihm warme Kompressen auf die Stirn. In einem anderen Schlafzimmer wartete Huma, voll angekleidet, inmitten der juwelenschweren Schatullen ihrer Verzweiflung.
    Schließlich sang im Garten unter ihrem Fenster leise ein Bulbul, und sie schlich lautlos hinunter, um dem Galgenvogel, dessen Gesicht von einer Narbe in Form des Neschi-Schriftzeichens sín gezeichnet war, die Haustür zu öffnen.
     
    Geräuschlos schwebte dieser Vogel hinter ihr die Treppe empor. Am Ende der Treppe trennten sie sich und gingen auf dem Korridor ihrer Verschwörung in entgegengesetzter Richtung weiter, ohne einander auch nur anzusehen.
    Als Sín, der Einbrecher, mit professioneller Geschicklichkeit in das Schlafzimmer des Geldverleihers eindrang, sah er, dass Humas Voraussage hundertprozentig zutraf. Hashim lag schräg auf seinem Bett ausgestreckt, ohne dass sein Kopf das Kissen berührte, sodass die Beute mühelos zugänglich war. Schritt um lautlosen Schritt näherte sich Sín dem Ziel.

    In diesem Moment geschah es, dass sich der junge Atta zum Entsetzen seiner Mutter im benachbarten Schlafzimmer senkrecht aufrichtete und ohne Vorwarnung – ausgelöst durch Gott weiß welchen Druck des Blutgerinnsels auf sein Gehirn – aus vollem Hals zu schreien begann: «Diebe! Diebe! Diebe!»
    Es klingt wahrscheinlich, dass Attas armer Verstand in diesen letzten Augenblicken bei seinem Vater weilte; aber es ist unmöglich, darüber Gewissheit zu erhalten, denn nachdem er diese drei seherischen Ausrufe hervorgestoßen hatte, fiel er in seine Kissen zurück und starb.
    Sofort brach seine Mutter in Jammern und Klagen, Heulen und Schreien aus, so ohrenbetäubend, dass sie damit das Werk vollendete, das Atta mit seinem Aufschrei begonnen hatte – ihre Stimme durchdrang nämlich die Wände zum Schlafzimmer ihres Mannes und ließ Hashim hellwach aufschrecken.
     
    Scheich Sín wollte sich gerade entscheiden, ob er sich unters Bett werfen oder dem Geldverleiher den Schädel einschlagen solle, als Hashim nach dem getigerten Stockdegen griff, der stets in einer Ecke neben dem Bett lehnte, und zum Zimmer hinausstürzte, ohne des Einbrechers zu achten, der im Dunkeln auf der entgegengesetzten Seite des Bettes stand. Rasch bückte sich Sín und holte die Phiole mit dem Haar des Propheten aus ihrem Versteck.
    Inzwischen war Hashim in den Korridor gestürmt und hatte den Degen aus dem Stock gezogen. Mit der Rechten hielt er die Waffe hoch und schwenkte sie drohend, mit der Linken schüttelte er den Stock. Als nun im Mitternachtsdunkel des Flurs plötzlich ein Schatten auf ihn zugelaufen kam, stieß ihm der Geldverleiher in seinem Wahnsinnszorn den Degen mitten ins Herz. Nachdem er das Licht aufgedreht hatte, musste er feststellen, dass er seine eigene Tochter ermordet hatte, und
dieser unglückselige Zufall überwältigte ihn mit so entsetzlicher Reue, dass er den Degen gegen sich selbst richtete, sich hineinstürzte und so seinem Leben ein Ende bereitete. Seine Frau, das einzig überlebende Mitglied der Familie, wurde beim Anblick dieses allgemeinen Blutbads wahnsinnig und musste später von ihrem Bruder, dem Vizepräsidenten der Polizei, ins Irrenhaus eingewiesen werden.
     
    Scheich Sín hatte sehr schnell begriffen, dass der Plan fehlgeschlagen war. Obwohl ihn nur noch wenige Schritte von der Erfüllung des Traums von den Schmuckschatullen trennten, verzichtete er auf ihn, kletterte aus Hashims Fenster und machte sich, während die

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