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Osten, Westen

Osten, Westen

Titel: Osten, Westen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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würde. Selbstverständlich behalte ich es nicht etwa wegen seines religiösen Wertes ... Schließlich bin ich ein Mann von Welt, von dieser Welt. Ich sehe lediglich ein säkulares Objekt von größter Seltenheit und überwältigender Schönheit darin. Kurz: Es ist die silbergefasste Phiole, die ich begehre, weniger das Haar. Man sagt, es gibt amerikanische Millionäre, die gestohlene Meisterwerke erwerben und sie verstecken – die wüssten genau, was ich jetzt empfinde. Ich muss, ich muss das Ding einfach haben!
     
    Jeder Sammler braucht wenigstens ein menschliches Wesen, um seine Schätze mit ihm zu teilen, und so rief Hashim seinen einzigen Sohn Atta zu sich und schilderte ihm das Geschehene. Atta war zutiefst beunruhigt, plauderte aber, da er zu schweigen geschworen hatte, erst aus der Schule, als die Probleme unerträglich wurden.
    Der junge Mann entschuldigte sich und ließ den Vater allein in der erstickenden Fülle seiner Sammlungen zurück. Hashim saß hoch aufgerichtet auf seinem geschnitzten Holzstuhl mit der hohen Lehne und starrte unverwandt auf die wunderschöne Phiole.
     
    Da es allgemein bekannt war, dass der Geldverleiher nicht zu Mittag aß, betrat erst abends wieder ein Diener das Studierzimmer, um seinen Herrn zur Tafel zu rufen. Er traf Hashim an, wie Atta ihn verlassen hatte. Genauso, und dennoch nicht genauso, denn der Geldverleiher wirkte nun aufgedunsen, verquollen. Seine Augen traten noch weiter aus den Höhlen
als sonst, sie waren rot gerändert, und seine Handknöchel waren schneeweiß.
    Er sah aus, als wollte er platzen. Als hätte er sich unter dem Einfluss der unterschlagenen Reliquie mit einer ganz besonderen Flüssigkeit gefüllt, die jeden Moment unkontrollierbar aus all seinen Körperöffnungen zu dringen drohte.
    Man musste ihn zu Tisch führen, und dort kam es dann tatsächlich zur Explosion.
     
    Ohne sich viel um die Wirkung seiner Worte auf das sorgfältig konstruierte und zerbrechliche Gebäude des Familienlebens zu kümmern, begann Hashim, hektisch zu plappern und einen endlosen Strom grässlicher Wahrheiten von sich zu geben. Entsetzt und schweigend hörten die Kinder zu, wie der Vater die eigene Frau beschimpfte und ihr offenbarte, dass seine Ehe seit vielen Jahren schon die schlimmste aller Qualen für ihn gewesen sei. «Endlich Schluss mit der Höflichkeit! », donnerte er. «Endlich Schluss mit der Heuchelei! »
    Anschließend und im selben Geiste klärte er seine Familie über die Existenz einer Geliebten auf und setzte sie von seinen regelmäßigen Besuchen bei bezahlten Weibern in Kenntnis. Seiner Frau sagte er, dass sie weit davon entfernt sei, in seinem Testament die Haupterbin zu sein, sie werde nicht mehr als jenes Achtel seiner Hinterlassenschaft erhalten, das ihr nach islamischem Recht zustehe. Gleich darauf fiel er über seine Kinder her, warf Atta vor, keinerlei akademische Fähigkeiten zu besitzen –«Ein Dummkopf! Ich bin mit einem verdammten Dummkopf geschlagen!» –, und beschuldigte seine Tochter der Laszivität, weil sie mit unverhülltem Gesicht in der Stadt herumlaufe, was sich für ein braves Moslemmädchen nicht schicke. Von nun an, befahl er, werde sie im purdah leben.

    Hashim verließ den Tisch, ohne etwas gegessen zu haben, und sank in den tiefen Schlaf eines Menschen, der sich eine Menge Dinge vom Herzen geredet hat. Die Kinder blieben völlig benommen und in Tränen aufgelöst zurück, während auf der Anrichte unter den erwartungsvollen Blicken des Dieners das Abendessen kalt wurde.
    Um fünf Uhr am nächsten Morgen zwang der Geldverleiher seine Familie, das Bett zu verlassen, sich zu waschen und die Gebete zu sprechen. Von da an begann er zum ersten Mal in seinem Leben, fünfmal am Tag zu beten, sodass seine Frau und seine Kinder gezwungen waren, es ihm gleichzutun.
    Noch vor dem Frühstück sah Huma, wie die Dienstboten unter der Anleitung ihres Vaters im Garten einen riesigen Scheiterhaufen aus Büchern errichteten und ihn in Brand setzten. Das einzige Buch, das der Vernichtung entging, war der Koran, den Hashim in ein Seidentuch wickelte und in der Diele auf einen Tisch legte. Auf seinen Befehl musste von nun an jedes Familienmitglied mindestens zwei Stunden pro Tag Passagen aus diesem Buch lesen. Kinobesuche waren von nun an untersagt. Und wenn Atta seine Freunde ins Haus einlud, musste Huma sich in ihr Zimmer zurückziehen.
     
    Längst befand sich die Familie in einem Zustand des Schreckens und der Bestürzung; aber es sollte

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