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Osten, Westen

Osten, Westen

Titel: Osten, Westen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Radio?», wiederholte ich.
    «Ja. Erinnern Sie sich, Lehrer Sahib!», sagte Ram vertraulich.
«Laxman, der Schneider, hat sich doch vor einigen Jahren, als ich noch ein Kind war, dieser Operation unterzogen. In null Komma nichts war das Radio da, und aus der ganzen Stadt kamen die Leute, um es sich anzuhören. Das ist der Dank der Regierung. Eine ausgezeichnete Sache, so ein Radio.»
    «Verschwinde, geh mir aus den Augen!», rief ich verzweifelt, fand aber nicht den Mut, ihm zu erklären, was inzwischen das ganze Land wusste: dass die Sache mit dem kostenlosen Radio nämlich ein faules Ei war, längst vorüber, längst vergessen. Sie war – funtoosh! – bereits vor vielen Jahren geplatzt.
     
    Nach diesen Ereignissen kam die Witwe des Diebes, die jetzt Rams Ehefrau war, nicht mehr sehr häufig in die Stadt – zweifellos schämte sie sich zu sehr über das, wozu sie ihn getrieben hatte. Aber Ramanis Arbeitsstunden waren länger denn jemals zuvor, und sobald er einem der vielen Bekannten begegnete, denen er von dem Radio erzählt hatte, hob er eine Hand ans Ohr, als hielte er in ihr bereits diesen verdammten Apparat, und ahmte nicht ohne Geschick die Rundfunksendungen nach.
    «Yé Akashvani hai», verkündete er der ganzen Straße. «Hier ist Radio All-India. Wir bringen die Nachrichten. Ein Regierungssprecher hat heute verkündet, dass Ramani Rikscha -wallahs Radio bereits unterwegs ist und jeden Moment zugestellt wird. Und nun ein wenig Musik.» Anschließend sang er in einem lächerlich hohen Falsett Lieder von Asha Bhonsle oder Lata Mangeshkar.
    Ram war schon immer mit der seltenen Eigenschaft gesegnet gewesen, an seine Träume fest zu glauben, und es gab Zeiten, da steckte er uns mit seiner Überzeugung, das imaginäre Radio werde kommen, beinahe an, sodass wir halbwegs
daran glaubten, es sei tatsächlich unterwegs, oder sogar, es sei bereits da, unsichtbar in seiner Hand am Ohr, während er mit der Fahrradrikscha durch die Straßen der Stadt fuhr.
    Allmählich warteten wir regelrecht darauf, dass Ramani am fernen Ende einer Gasse um die Ecke bog, seine Klingel betätigte und lauthals verkündete: «Radio All-India! Hier ist Radio All-India!»
     
    Die Zeit verging.
    Und Ram fuhr noch immer mit seinem unsichtbaren Radio durch die Stadt. Ein Jahr verging. Noch immer hallten seine Imitationen von Rundfunksendungen durch die Straßen. Doch wenn ich ihn jetzt sah, entdeckte ich etwas Neues in seinem Gesicht, eine gewisse Anstrengung, als kostete ihn das Ganze eine enorme Kraft und wäre weitaus ermüdender als das Rikschafahren, noch ermüdender, als eine Rikscha mit der Witwe des Diebes nebst ihren fünf lebenden Kindern sowie den Geistern der beiden toten zu kutschieren. Es war, als ergösse sich die ganze Energie seines jungen Körpers in diesen fiktiven Raum zwischen Ohr und gewölbter Hand und als versuchte er, das Radio durch einen machtvollen, möglicherweise tödlichen Willensakt ins Leben zu zwingen.
    Besonders hilflos kam ich mir vor, weil ich ahnte, dass Ram all seine Ängste und all seine Reue über das, was er getan hatte, in die Idee dieses Radios fließen ließ und dass er, wenn dieser Traum sich in Nichts auflösen sollte, gezwungen war, sich der ganzen Schwere seines Verbrechens gegen den eigenen Körper zu stellen und zu begreifen, dass die Witwe des Diebes ihn, bevor sie ihn heiratete, in einen Dieb der dümmsten und schrecklichsten Art verwandelt hatte, indem sie ihn zwang, sich selbst zu berauben.
    Dann kehrte der weiße Caravan auf den Platz unter dem Banyanbaum zurück, und ich wusste, dass nichts mehr zu
machen war, weil Ram bestimmt kommen würde, um sich sein Geschenk abzuholen.
     
    Er kam nicht am ersten Tag und auch nicht am zweiten. Später erfuhr ich, dass er nicht habgierig wirken wollte; er wollte die Gesundheitsbeamten nicht merken lassen, wie verzweifelt er sich dieses Radio wünschte. Außerdem hoffte er irgendwie, sie würden es ihm zu Hause aushändigen, vielleicht im Rahmen einer kleinen, offiziellen Feier. Ein Narr bleibt ein Narr, und niemand kann sagen, welche Vorstellungen er sich macht.
     
    Am dritten Tag kam er. Unter dem Klingeln seiner Fahrradglocke, die Hand wie üblich am Ohr und lauthals den Wetterbericht imitierend, traf er vor dem Caravan ein. Hinter ihm in der Rikscha saß die Witwe des Diebes, die Hexe, die es nicht hatte lassen können mitzukommen, um der Demontage ihres Lebensgefährten beizuwohnen.
    Es dauerte nicht sehr lange.
    Fröhlich stieg Ram in den

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