Ostfriesengrab
Hoffnung durchrieselte ihren Körper.
Es gelang ihr, die Fesseln am rechten Handgelenk zu durchtrennen. Das linke würde schneller gehen! Schon hatte sie mehr Spielraum, kniete im Bett und säbelte mit der Schere an der Fessel herum.
In dem schallisolierten Raum konnte sie natürlich nicht hören, ob er näher kam. Die Tür öffnete sich plötzlich hinter ihrem Rücken. Er sah sofort, was sie tat, und sprang herbei.
Er versuchte, ihr die Schere aus der Hand zu nehmen. Sie trat nach ihm. Sie biss und benutzte die Schere als Stichwaffe.
Er kämpfte nicht wirklich hart. Er ohrfeigte sie. Er benahm sich wie jemand, der Angst hat, seinen Gegner zu verletzen. Aber als sie die Spitze der Schere in seinen linken Oberarm stieß, brüllte er vor Schmerz. Er taumelte zurück und stand jetzt mit dem Rücken an der isolierten Wand.
Sie kniete auf dem Bett, die linke Hand immer noch ans Gestell gefesselt. Mit der rechten fuchtelte sie durch die Luft. Sie fletschte die Zähne wie ein Raubtier. Sie spürte in sich die Bereitschaft, ihm die Schere in den Hals zu rammen.
Er befühlte seinen Oberarm und sah fast ungläubig auf seine Finger, an denen jetzt sein eigenes Blut klebte. Dann hob er einen Stuhl hoch und schlug zu.
Benommen fiel sie aufs Bett zurück, aber immer noch bereit, sich zu verteidigen, umklammerte sie die Schere und drohte ihm damit. Er hob kopfschüttelnd den Stuhl hoch und schlug noch einmal zu. Es sah aus, als ob es ihm leidtun würde. Dann warf er sich auf sie, packte mit beiden Händen ihren rechten Unterarm, bog ihn nach hinten, entwand ihr die Schere und fesselte sie erneut.
Sie strampelte, sie jammerte, sie schrie, aber sie hatte keine Chance mehr.
Er verschwand für eine Weile, um seine Wunde zu versorgen. Sie versuchte, einen Blick nach draußen zu erhaschen. Waren dort Aufnahmegeräte? Computer? Befand sie sich in einem Tonstudio?
Als er zurückkam, trug er ein gebügeltes, hellblaues Hemd und wirkte frisch geduscht. Er betrachtete sie traurig. Die Kratzer und Hautabschürfungen, die die Stuhlbeine auf ihrem Körper hinterlassen hatten, tastete er ab wie ein Kinderarzt. Kopfschüttelnd sagte er: »Du hast alles verdorben. Alles. Deine Haut sollte mir die Leinwand sein. Gleichzeitig Leinwand und Motiv. Aber du hast nichts verstanden. Gar nichts. Es wird Tage dauern, bis du wieder bereit bist, wenn nicht Wochen.«
Ihr Verstand raste. Tage? Wochen? Das bedeutete auf jeden Fall, dass er nicht vorhatte, sie sofort zu töten. Irgendwann würde man nach ihr suchen und sie hier in diesem Tonstudio finden. Vielleicht würde es auch bald für neue Aufnahmen benutzt werden. Niemand baute so etwas und ließ es dann leer stehen.
Er deckte sie zu und ließ sie dann in dem Raum allein zurück. Von außen schaltete er das Licht aus. Jetzt war sie wieder in völliger Dunkelheit. Aber sie konnte seine Anwesenheit noch riechen. Außerdem den Nagellackentferner. Die Lotion, mit der er sie eingerieben hatte. Ja, sogar der Rasierschaum, den er benutzt hatte, um sie zu enthaaren, hatte seine Duftspur hinterlassen. Je weniger andere Eindrücke da waren, umso deutlicher konnte sie sogar ausmachen, wo genau die Düfte sich im Raum befanden.
Sie musste an ihre Eltern denken, die sich immer viel zu viele Sorgen machten, wenn sie nicht früh genug nach Hause kam und sie ihnen nicht gesagt hatte, wo sie blieb. Damals, als sie noch eine Schülerin war.
Bitte vergesst mich jetzt nicht. Bitte nicht!
Rupert fand Gunnar Peschke. Er saß im Fährhaus, aß Matjes nach Hausfrauenart und trank ein Weizenbier dazu. Er sah versonnen zum Hafen und wirkte sehr zufrieden.
Er hat sich sein neues Opfer bereits ausgesucht, dachte Rupert. Er hätte ein Jahresgehalt darauf gewettet.
Dann hielt ein schwarzer Lieferwagen mit Wiesbadener Kennzeichen auf dem Parkplatz am Hafen. Auf dem Lieferwagen stand in großer Schrift: MES -Filmproduktion.
Ein schwarzhaariger Mann stieg aus. Rupert schätzte ihn auf Ende vierzig. Seine Nase musste mal einen Boxhieb erhalten haben. Er wirkte sportlich, humpelte aber ein wenig. Trotzdem war er wieselflink, ohne vorher einen Parkschein für seinen Wagen zu lösen, lief er ins Fährhaus und setzte sich zu Gunnar Peschke.
Dachte ich es mir doch – ihr seid also zu zweit. Wie hätte einer alleine das auch alles hinkriegen können? Und das ist der Lieferwagen, mit dem ihr die Mädels abtransportiert habt. Wahrscheinlich werden sie zu gerne freiwillig eingestiegen sein. Filmproduktion! Das ist eure
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