Ostfriesengrab
Das kannst du doch nicht tun, Picasso!«
»Psst, Schneeflocke«, flüsterte er. »Sei jetzt ganz leise. Lass
mich deine Sonne sein, die deine wunderschönen Eiskristalle in Wasser verwandelt. Wasser, das dann die Erde nährt und neue Früchte wachsen lässt.«
Er zog die Schlinge zu.
Plötzlich kamen ihm Zweifel. Er fühlte sich als schlimmer Versager. Wie würde er dastehen vor der Weltöffentlichkeit?
Schlimme Phantasien plagten ihn. Der Reporter Mike würde ihn in die Enge treiben. Hatten nicht andere große Künstler sogar Strandgut verwendet, um ihre Objets trouvés-Werke zu schaffen? Es musste nicht immer Leinwand und Farbe sein und schon gar nicht Marmor oder Gussstahl. Joseph Beuys nahm Fett und Filz, Luftpumpen und Honig. Günther Uecker rostige Nägel. Daniel Spoerri fixierte die Reste abgebrochener Mahlzeiten mit Leim und Konservierungsstoffen auf den Tischen, sodass dreidimensionale Stillleben entstanden. Dieter Roth stellte aus zerkleinerten Buchseiten, die er mit Gelatine, Fett und Gewürzen vermengte und damit Wurstdärme füllte, seine Literaturwürste her. So verwurstete er die »Blechtrommel« von Günter Grass. Pablo Picasso nahm einen Fahrradsattel als Schädel und Rennlenker für die Hörner. Der berühmte Bronzeabguss »Stierschädel« entstand. Robert Rauschenberg holte Autoreifen, Tischtennisbälle, ausgestopfte Ziegen und Fahrräder in seine Kunstwerke. Alles, was wahre Künstler mit ihren Fingern berühren, kann zu Kunst werden. Marcel Duchamp stellte selbst ein Urinal ins Museum, ohne etwas daran zu verändern, und erklärte es zum Kunstwerk.
Aber er war nicht mal in der Lage, mit ein bisschen angekratzter Haut umzugehen. Die großen Magier der Kunst würden ihn dafür verachten. Er sah Beuys, Uecker, Rauschenberg, Spoerri, Roth, Picasso und Duchamp zusammenstehen und höhnisch über ihn lachen.
»Was sagen Sie dazu? Rauschenberg und Picasso finden
Ihre Kunst manieriert. Duchamp hält Sie für einen übertriebenen Snob. Einen Nichtskönner, der sein Handwerk nicht beherrscht.«
Beuys sagte: »Jeder Mensch ist ein Künstler. Nur du nicht.« Dann drehte er sich voller Verachtung weg.
»He, ich bin einer von euch!«, rief er und wollte hinter ihnen herlaufen, doch Mike hielt ihn fest. »Ich glaube, die anderen nehmen Sie nicht ernst. Sie gehören nicht wirklich dazu. Die wollen nichts mit Ihnen zu tun haben. Warum nicht?«
»Eure Kunst ist keine Kunst!«, schrie er. »Ihr habt euch zufriedengegeben mit billigem Tand! Ich dagegen, ich will das Wahre, Große, Schöne zerstören, um euer Erschrecken zu sehen. All dies Streben nach Schönheit und Vollkommenheit ist nichts weiter als die Angst vor dem Tod. Das müssen Sie doch verstehen, Mike. Ich bringe das Schönste zusammen mit dem Schrecklichsten. So entsteht die wahre Kunst, die unser Bewusstsein erweitert. Ich kann nicht irgendwas aufheben und es zum Kunstwerk erklären. Ein Fahrradsitz ist kein Stierkopf, Pablo. Dein Fett stinkt, Joseph. Deine Kunst verrottet im Museum! Eine Putzfrau hat deine Ausstellung abgeräumt, weil sie sie für Abfall hielt! Abfall!«
Er atmete tief durch. Er musste sich wieder in den Griff bekommen. Er durfte sich in der Öffentlichkeit nicht so provozieren lassen, auch nicht von den alten Meistern.
Er räusperte sich, drehte sich eine Zigarette und lutschte gleichzeitig ein Pfefferminzbonbon.
»Entschuldigen Sie, Mike, dass ich so ausgeflippt bin. Manchmal geht halt die Leidenschaft mit mir durch. Ich habe zu lange gearbeitet. Ich muss mehr Wasser trinken und kleine Pausen machen.« Er lachte. »Ich rede schon wie ein Bürohengst, was? Ja, spotten Sie nur. Ich weiß, ich habe einen Fehler gemacht, ich hätte geduldiger sein müssen. In wenigen Tagen wäre ihre Haut wieder makellos gewesen. Aber hat Beuys es denn akzeptiert,
als eine Putzfrau die Pflaster von seiner Badewanne entfernt hat? Hat es nicht einen Riesenaufstand gegeben? Hat er nicht behauptet, sein Werk sei zerstört worden? Was wäre aus all dem Zeug geworden, das Duchamp, Rauschenberg und Uecker ins Museum gestellt haben? Das meiste wäre doch auf dem Müll gelandet, oder nicht? Und genau das habe ich mit Christina Diebold gemacht. Ich habe sie einfach entsorgt.«
»Sie sind ein Künstler«, sagte Mike. »Aber Sie handeln wie ein Gott. Sie entscheiden über Leben und Tod, über Kunst und Nichtkunst … «
»Sie entwickeln sich, Mike. Sie beginnen durchaus, mich kritisch zu sehen, und erstarren nicht nur in Bewunderung. Nein, nein,
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