Ostfriesengrab
sie. Er brauchte Daten, Fakten und Beweise. Er wusste nicht mehr als seine Kollegen, aber er wertete die Indizien anders, denn er hatte keinen Respekt vor diesen Medienfuzzis.
Er überprüfte seine Waffe, nahm die Munition heraus und lud die Waffe erneut. Dann zog er den Schlitten durch. Er kam sich heldenhaft dabei vor, als er das metallische Geräusch der Patrone hörte, die in den Lauf glitt. Dann fuhr er nach Norddeich. Er hatte die Position von Peschke auf 30 Meter genau. Zum Glück fuhr der nicht mit dem Auto und saß auch auf keinem Fahrrad. Seit einer guten Stunde hatte er sich nicht mehr vom Fleck bewegt.
Rupert fuhr den Weg ab, während sich sein Magen erneut zusammenkrampfte.
Sein Handy klingelte. Sie wusste nicht, woher sie die Melodie kannte, aber es war ein Kinderlied, da war sie ganz sicher. Er zog das Handy aus seiner Jeans, warf einen kurzen Blick aufs
Display und nickte ihr dann zu, während er mit einem entschuldigenden Schulterzucken den Raum verließ, so als sei es ihm peinlich, dass ihre Handlung gerade jetzt durch ein Gespräch gestört wurde. Er wollte nicht in ihrer Gegenwart telefonieren und verließ den schalldichten Raum.
Ihre Arme schmerzten in der Haltung. Sie wurden nicht mehr richtig durchblutet. Die linke Hand war eingeschlafen, aber an der rechten hatte sie ein bisschen mehr Spielraum. Sie versuchte, mit den Nägeln am Seil zu kratzen. Vielleicht, dachte sie, kann ich es durchschaben. Der Mensch braucht eine Hoffnung …
Er kam zurück. Der Geruch von Nagellackentferner stieg in ihre Nase, als er wieder in den Raum kam. Er wirkte fröhlich. Das Gespräch hatte ihm Spaß gemacht. Er sah aus wie jemand, der mit sich und der Welt völlig im Reinen war.
Fast zärtlich und sehr sorgfältig löste er den Lack von ihren Nägeln. Dann verließ er noch einmal den schalldichten Raum und kam mit einer Nagelfeile, einer Schere und einer Schale, in der lauwarmes Wasser schwappte, zurück. Er goss ein paar Tropfen von einem Spülmittel hinein, das nach Limonen duftete. Dann setzte er sich an ihre rechte Seite, zerrte ihre Hand so zurecht, dass sie die Fingerspitzen ins Wasser tauchen konnte.
Spiel mit, dachte sie, spiel einfach mit. Solange er dir die Nägel manikürt, wird er dich nicht umbringen. Ihr war klar, dass er sie auf etwas vorbereitete. Etwas, das sie freiwillig niemals mitspielen würde. Etwas, das mit ihrem Tod enden sollte.
Sie erinnerte sich an die Berichte über den Friseur. Er hatte die Frauen nicht vergewaltigt. Das zumindest würde ihr also erspart bleiben. Oder war der hier ein Nachahmungstäter? Hatte er sich von den Taten des Friseurs inspirieren lassen?
Schließlich trocknete er ihr Finger ab und betrachtete ihre Nägel mit einem Kopfschütteln.
»Du ernährst dich nicht gut«, sagte er. »Es ist eine Schande.«
»Ich habe Hunger«, flüsterte sie, um Zeit zu gewinnen. »Du solltest mehr Obst und Gemüse essen, nicht immer dieses Junkfood. Man sieht es an deinen Nägeln und an deinen Haaren. Du hast einen Mangel an Kalzium und an Vitaminen.«
Er sprach fürsorglich zu ihr wie ihr Vater. Tränen stiegen in ihre Augen, denn Hoffnung keimte auf. Würde er sie doch leben lassen?
»Ja«, sagte sie, »ich war blöd. Ich habe mir nicht genug Zeit genommen, selbst zu kochen. Hier schnell ein Hamburger, da eine Bratwurst … Kann man das wirklich an den Fingernägeln sehen?«
Mit der kleinen Schere schnitt er die Nägel ihrer rechten Hand zunächst in eine gleichmäßige Form. Erneut klingelte sein Handy. Jetzt erkannte sie die Melodie. Es war »Der Plumpsack geht herum«. Sie erinnerte sich gut an das Lied. Sie hatten es manchmal an Geburtstagen gespielt.
»Plum, Plum, der Plumpsack geht herum.
Wer sich umdreht oder lacht,
kriegt den Buckel vollgemacht.
Dreht euch nicht um,
der Plumpsack geht herum.«
Er hatte die kleine Nagelschere neben ihrer Hand liegen lassen. Wollte er sie auf die Probe stellen? War das eine Teufelei von ihm? Wollte er so sehr, dass ihre Hoffnung aufkeimte, oder hatte er eine Nachlässigkeit begangen?
Sie verbog sich, reckte ihre Finger und bekam tatsächlich die Schere zu fassen. Augenblicklich war ihr Körper schweißbedeckt. Die Panik, sie könne die Schere fallen lassen, ließ ihre Gelenke fast steif werden.
Sie bog ihr Handgelenk nach hinten und konnte mit der Schere an ihren Fesseln herumsäbeln. Es war unmöglich, sie mit
einem Schnitt zu zertrennen, doch schon lösten sich Fasern von der Wäscheleine. Ein Hochgefühl der
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